Wenn Nijinksy heute leben würde, dann wäre er ein urbaner Tänzer geworden: virtuos, mit fetten moves und sexy. Die französische Compagnie „Chute Libre“ (Freier Fall) zollt nun dessen damaligem Skandalstück „Le Sacre du Printemps“ beim schrit_tmacher Festival in Aachen ihren Tribut.

Von Lisa Reinheimer

Wenn Nijinksy heute leben würde, dann wäre er ein urbaner Tänzer geworden: virtuos, mit fetten moves und sexy. Die französische Compagnie „Chute Libre“ (Freier Fall) zollt nun dessen damaligem Skandalstück „Le Sacre du Printemps“ ihren Tribut.

Oder eher dem Skandal von Igor Strawinsky, dessen Idee es war, Musik über eine ursprüngliche russische Kultur und ihr Frühlingsritual zu schreiben. Diaghilew, der große Mann der Ballets Russes, sah hierin, dass sich etwas Bedeutendes abzeichnete. Bereits 1912 hatte er seinen Star-Tänzer Nijinksy (Le Faune 1912) auf Strawinskys Musik choreographieren lassen, woraufhin er zunächst seinen Haupt-Choreographen Michel Fokine (u.a. Der Feuervogel) verlor, der erst später wieder an die Ballets Russes zurückkehrte. Jetzt musste Nijinsky das zweiteilige Ballett „Le Sacre du Printemps“ selbst choreographieren. Der erste Teil ist die Anbetung der Erde, der zweite ist das Opfer einer auserwählten Jungfrau, die zum Sonnengott tanzt.

Die Premiere der Ballets Russes im Jahr 1913 endet in einem Aufstand. Vor allem die Musik, die nicht mehr auf die Melodie, sondern auf die Rhythmusgruppe setzt, erzeugte einen Skandal. Über den Tanz fragte man sich, ob man ihn noch als Tanz bezeichnen konnte, so wild stampfend wie diese Tänzer sich bewegten, gekleidet in primitive Bauernkleidung.

Nachdem Diaghilev Nijinsky entlassen hatte, weil er heimlich geheiratet hatte, nimmt er Fokine wieder auf. Dieser akzeptierte unter der Bedingung, dass, solange er wieder der Choreograph der Truppe sei, keine Stücke von Nijinsky mehr aufgeführt werden. Doch Diaghilev will „Sacre“ ein paar Jahre später wieder aufnehmen. Nijinskys psychische Gesundheit ist da jedoch bereits so schlimm, dass Diaghilev Leonide Massine 1920 an seiner Stelle tanzen lässt. Dies stellte die erste „Wiederinszenierung“ dar und war der Beginn einer langen Tradition, in der auch „Bloom“ der Compagnie Chute Libre eine Rolle spielt.

Dieser „Sacre“ jedoch verursacht keinen Skandal. Es dauert sogar eine Weile, bis das Stück wirklich Fahrt aufnimmt.

Ein sanft vibrierender Beat, verführerisch pfeifende Vögel. Der Klang des Frühlings. Die Tänzer bereiten sich auf ihren gemeinsamen Auftritt vor. Ein Tisch steht in der Mitte bereit, Stühle um die Spielfläche herum, die mit Lampen auf Stativen vollgestellt ist.  Zwei Tänzer kommen von den Tribünen herunter und fangen an, die Lampen zu verschieben.

Dann ist alles bereit zum grossen Abtasten und Verführen.

Das ist ein Gefühl, als würdest Du auf eine Party gehen und bist viel zu früh dran. Das ist die Phase, in der jeder noch seinen Platz finden muss und seine beste Pose und das dauert eine Weile, denn, wer sich zuerst bewegt verliert, weshalb es dann auch ziemlich dauert, bis es wirklich los geht.

Diese Tänzer haben eindeutig einen anderen Hintergrund. Diese sorgen in ihren schlapprigen, eher verhüllenden Kostümen und dem Herumschleppen von Lampen, Tisch und Stühlen erst einmal für ein tüchtiges Chaos.

Erst als diese Gruppe mit ihrem Tanz loslegt, dann wird deren Potenzial deutlich.  Wirbelnde Windmühlen auf dem Boden, weiche Dead Drops, rasend schnelle Beinarbeit, wacking, old school breaking. Kurzum, eine Compagnie mit einer reichen Vielfalt, die sich aber leider nicht immer aus der Situation heraus entwickelt.

Herausragend jedoch das Solo der Tänzerin in Grün, es ist bezaubernd. Fliessend und elastisch wechselnd sich  Zwei- und Dreidimensionalität. Ihr ganzer Körper grooved in demselben Fluss. Hinter ihr sind die sechs Stativlampen, die sie beleuchten und die Bühne begrenzen. Sie sieht nicht aus wie eine Auserwählte oder eine Jungfrau. Eher wie jemand, der weiß, was sie wert ist.

Die auf Hieroglyphen aufgebauten Bewegungen von Nijinksy’s „Sacre“ passen erstaunlich gut in das Urban-Vokabular und so werden wir ständig an Nijnisky’s ikonographische Posen aus dem Nachmittag eines Fauns (L’Après Midi d’un Faune) erinnert.

Aber die wilde Ekstase ist hier etwas gezähmt. Auch gibt es kein Opfer. Das Ende fühlt sich stattdessen wie das Ende einer langen Clubnacht an, die Ekstase ist schon vorbei. Von unbequemen Teenagern bis zu müden Clubbern. Aber in der Erschöpfung finden sie sich, die Gruppe, das Ganze. Eine letzte Bedrohung kommt vom Balkon, wo eine fallende Lampe wie ein Schwert über der Gruppe schwingt. Ein Cliffhanger, eine Ende, das alle Fragen offen lässt und nach Fortsetzung verlangt.