Friedensanleitung für kleine umzingelte Völker

Melanie Suchy, 1.11.2017 

Bodytalk und das AURA Dance Theatre zeigten ihren neuen litauischen Doppelabend im Theater im Pumpenhaus in Münster: „GLÜCK“ und „GODOS“

Stinkt der Fisch nicht vom Kopf? Den losen Faden eines banal-weisen Gedanken nimmt man dann mit in die Pause und fragt sich, wer hier der Kopf war. Der Fisch nämlich müffelt wirklich, sein Geruch  mischt sich in den süßlichen von zerfetztem Brot. Bodytalk bohrt mal wieder in Wunden und Materialien; doch ja, auf den zweiten Blick präsentiert das neue Stück des Teams um Yoshiko Waki und Rolf Baumgart, die inzwischen am Pumpenhaus in Münster residieren, tatsächlich eine Chefin, Jeanna Serikbayeva. Eine, die nicht scharfe Kommandos gibt, sondern sorgsam und hämisch wie eine Göttin Schicksal macht. Sie stellt Nachwuchs her, Kreationen, Kreaturen aus Teig, den sie erst knetet und haut wie eine Furie. Dann formt sie ihn zum Menschlein, übergibt es einer Frau; später räumt sie gebackene Brote, Laibe in Babygröße, gekleidet in winzige Anoraks, aus einem Kinderwagen auf die Bühne. Dass es mit ihnen kein gutes Ende nimmt, scheint sie zu wissen. Zu planen?

Vielleicht fragt das dröhnende und gekonnt mit Angst und Wut spielende „GLÜCK / LAIMĖ / СЧАСТЬЕ“ nicht nur nach der brenzligen Situation Litauens in Nachbarschaft zum Putin-Russland, sondern auch danach, wieviel Verantwortung jemand hat, der etwas in die Welt setzt, und wenn es nur eine Geschichte ist. Oder eine Bitte. Bodytalk schreiben den Titel des Stückes, das sie in Kooperation mit dem AURA Dance Theatre aus dem litauischen Kaunas produziert haben, groß und in drei Sprachen. Als sei er laut oder ein riesiges Versprechen; und dass das Glück gleichzeitig auf Litauisch und Russisch versprochen und beschrien wird, sorgte  in Kaunas für Protest: Die entsprechende letzte Szene wurde ihnen verboten. Sie ist eine Bitte. Sie gibt sich als Enthüllung: Jene Göttin erscheint zunächst im bodenlangen, majestätisch faltenreichen Gewand, lässt sich im Hintergrund mit dem jesushaft fast nackten Mann ein, der einen Fisch in der Hand hält und sich fischig über die Bühne schlängelt; schließlich richtet sie sich ans Publikum und bittet auf Russisch und Englisch um Umarmungen, tritt aus dem Mantel und steht in grüner russischer Majors-Uniformjacke da. Lächelt:

„Come to celebrate collective luck!“

Die erste, die sich im Pumpenhaus neben sie stellt und das Umarmen im Sinne des kollektiven Glücks ablehnt, „never!“ (bevor einige herzige deutsche Zuschauer der Bitte Folge leisten), ist die Litauerin Birutė Letukaitė. Sie ist die Leiterin des AURA Dance Theatre, das dem zwölfköpfigen „GLÜCK“ einige Tänzer zur Verfügung gestellt hat und die nach diesen vierzig Minuten und einer überlangen Pause ihren Zwanzigminüter „GODOS“ präsentierte

  

Warten auf GODOS

Der altertümliche litauische Begriff bezeichne Sehnsucht, unerfüllte Wünsche, erklärt der Abendzettel. Das Stück hatte, in anderer Besetzung, im Februar 2016 Premiere im Rahmen eines Doppelabends am städtischen AURA-Theater in Kaunas und ist das nervöse Sinnbild einer entwurzelten Gesellschaft, die sich ihrer Herkunft und gemeinschaftlicher Gebräuche oder Geschichten versichern möchte. Vier Tänzerinnen in futuristisch- oder puristisch-unschuldigen weißen Bodys und mit weiß geschminkten Gesichtern agieren in Formationen vor einer Videoleinwand, auf die Saulius Paliukas  Folklorebordüren projiziert, die sich später mit Strichcodes vermischen. Mal werden sie zu winkeligen, marionettenhaften Automatenwesen, die auf halber Spitze stöckeln, mal brechen sie in virtuose Solos aus mit extrem tief gebeugten Beinen oder hoch zum Kopf gezogenem Fuß, mal winden sie genussvoll ihre Oberkörper oder wedeln zart mit den Händen, mal werden sie gemeinsam mit gestreckten Armen und Seitschritten zur Webstuhlmechanik. Viel zu schnell wechselt das einander ab, dass man die einzelnen Fäden des Musters kaum mit dem Blick erfassen kann. Ein guter Kunstgriff für das schön irritierende Stück.

Auf und ab und auf und ab

Die einzige, die bleibt, wo und was sie ist, ist die fünfte Tänzerin, in Schwarz, die meist am Boden kraucht und ihre spinnenhaften Glieder streckt. Ein Biest mit blanken Brüsten, dessen Bösartigkeit sich nur noch mit seiner Einsamkeit paart, denn es hat irgendwie den Faden zu den Menschen verloren. Die sind ja auch, in Form dieser madenfarbigen Damen, nicht mehr das, was sie mal waren. Lassen sich mal zu einem kühlen Kuss mit der Mythenfigur herab, die vielleicht Godos ist oder es beleben könnte, aber morden sie am Ende. Geschäftsmäßig.

Ex-real-existierende Utopie

Auch in Bodytalks „GLÜCK“ zeigen die Tänzerinnen und Tänzer großes Können, diesmal beim hingebungsvoll heftigen Modernen Tanz mit großen Bögen, Pirouetten, Rollen, Anspringen, Beinschwingen, wobei wohl manches aus der Tanzgeschichte, dem „Erbe“ geklaubt wurde. Oder sie schwenken, pendeln, kreiseln Sensen in hübscher Formation, vielleicht eine Reminiszenz an sowjetische Ballette. So macht sich der Tod hübsch. Zu Beginn des Stückes nämlich ist von Übungen die Rede, mit denen Kindern in Litauen das siebentägige Überleben in Bunkern im Kriegfall beigebracht werde – die Tänzer legen sich Teigfladen auf die Gesichter, mit Löchern, lächerliche Schutzmasken. So ist das Thema gesetzt: das Leben in einem Kalten Krieg, zu dem der gute alte Sting von 1985 von Lukas Zerbst herbeigerufen, -gesungen wird mit monströser Soundwolke und teilaktualisiertem Text, der „Putin“ nennt statt Gorbatschov, die Hoffnung streicht und meint, „The Russians stop their children, too“ (oder „starve“?). Der Text geht in dem hinreißend melancholischen Getöse fast unter. Wie die Zukunft des Landes, das nicht zur nächsten Krim werden will.

The same biology

Also gehen auch die Kinder unter: Sie werden ertränkt. Eine solche Geschichte wird in „GLÜCK“ wie eine Legende erzählt und liedermacherhaft zur Gitarre vorgetragen, während auf der friedlichen Videoprojektion von Wellen und Meeresstrand plötzlich eine Sekunde lang Brote zu sehen sind, die anschwemmen. Wie Säuglinge. Obwohl die Story behauptet, die seien heimlich gerettet worden und kämen später als Invasoren, als Rächer zurück, ohne jedoch von ihrer Herkunft zu wissen. Wie die Bodytalks gemeinsam mit den Beteiligten ein Tanztheater erschaffen über eine scheinbar ausweglose gesellschaftspolitische Situation, ohne Lamento, Lecture oder platte Freund-Feind-Zuschreibung, sondern mit Tanzen, was zugleich Selbstbehauptung, Druckablassen, Nichtkleinbeigeben, Gemeinschaftlichkeit und auch Realitätsflucht sein kann, das ist extrem sehenwert. Hoffentlich wird „LAIMĖ / СЧАСТЬЕ“, das Anfang Oktober in Kaunas Premiere hatte, eine Zukunft auf etlichen Theaterbühnen haben.