Josefine Patzelt und Lenah Flaig beschließen die Reihe First Steps in der Fabrik Heeder mit ihrem Stück „One must still know how to disappear“

 

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Von Bettina Trouwborst

Ein Erotik-Thriller? Die elektronische Musik schwillt bedrohlich an, während sich zwei langhaarige Blondinen in schwarzer Wäsche im Halbdunkel unter einer Glühbirne gegenüber sitzen. Eher nicht, denn die beiden ziehen sich Kleidungsstück um Kleidungsstück wieder an – und lassen sich dabei nicht aus den Augen. Blaue Jeans, weißes Top, schwarze Sneakers – sie sehen fast aus wie Zwillinge. Eine strategische Maßnahme, wie wir bald erfahren werden. Denn Anweisung Nummer drei des Philosophen Jean Baudrillard in der Kunst des Verschwindens lautet: Finde eine andere Person und versuche, sie zu kopieren. Textfragmente des Franzosen liest nämlich eine Stimme aus dem Off in leicht süffisantem Ton. Und bringt die beiden Tanzkünstlerinnen Josefine Patzelt und Lenah Flaig an ihre psychischen und physischen Grenzen. Ihr gemeinsamer choreografischer Erstling mit dem Titel „One must still know how to disappear“ vibriert vor Spannung: ein philosophisch motivierter Tanz-Krimi. Die kaum merkliche sanfte Ironie macht ihn umso reizvoller.

Krefeld Nachtkritiken 2017 one must know first steps

Die beiden jungen Frauen geraten mehr und mehr in den Sog der Stimme (Ralph Günther). Ganz entspannt-genüsslich philosophiert sie über Formen des Verschwindens in englischer Sprache. Die Metamorphose sei ein gutes Mittel, eine Form zu verlassen, sich zu verwandeln und eine neue anzunehmen – wie der Tanz. Der Tod dagegen sei keine gute Variante: „One must still know how to disappear“, so das Credo. Dann zerfetzten harte Crash-Geräusche die freundliche Stimme.

Die hohe Kunst von Josefine Patzelt und Lenah Flaig liegt darin, dass sie die Gedanken des Philosophen aufnehmen, ohne sie zu illustrieren. Mehr noch, sie lassen sich von ihnen tänzerisch antreiben und schließlich beherrschen. Ihr zeitgenössisches Bewegungsidiom, das die beiden als starke Tänzerinnen ausweist, ist geprägt von Elementen des Streetdance. Mit den eckigen Arm-Gesten, abrupten Richtungswechseln und dem federnden Körper vermitteln die Tanzsequenzen etwas Marionettenhaftes. Man könnte die Frauen als Marionetten dieser Stimme sehen, die eine wachsende mentale Macht auf sie ausübt. Oder auch nicht. Denn das Stück lässt Interpretationsspielraum in alle Richtungen.

Krefeld Nachtkritiken 2017 one must know first steps

Immer neue, oft kryptische Akzente setzten die beiden Nachwuchschoreografinnen. Und gestalten so eine dichte, knisternde Atmosphäre. Einen Spannungsbogen, der nicht locker lässt. Dramaturgisch geschickt, führen sie Requisiten oder Aktionen ein, die im späteren Verlauf eine Bedeutung gewinnen.

Und sich zu einem fulminanten Finale verdichten. Während Lenah Flaig auf cool macht und hinter einer Sonnenbrille verschwindet, wie es der akustische Partner als jugendliches Gehabe missbilligt, schreibt Josefine Patzelt mit Kreide an verschiedenen Stellen auf den Boden – für den Zuschauer nicht lesbar. Später, nachdem insbesondere Patzelt Giselle-artig bis zur totalen Erschöpfung getanzt hat, erscheinen die beiden Frauen in einem düsteren Tableau in einer Zwischenwelt. In schwarzen Kleidern bewegen sie sich in einem Licht-Rechteck mit Kreide-Inschrift wie auf einem Grab. Die ganze Bühne ein Friedhof? In Zeitlupe, erst angstvoll gekrümmt, dann wie erlöst, bewegen sie sich einem Lichtstrahl entgegen. Auf dem Weg ins endgültige Verschwinden oder in die Transformation? Vieles bleibt unergründlich.

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Die Performance von Josefine Patzelt und Lenah Flaig hat zweierlei, das vielen zeitgenössischen Arbeiten fehlt: Geheimnis und Tiefgang. Sie setzt einen eindrucksvollen Schlusspunkt, nein, ein Ausrufezeichen, unter das Nachwuchsformat First Steps des Krefelder Kulturbüros in der Fabrik Heeder. Und zeigt, wie lohnend es sein kann, Anfängern eine Plattform zu bieten.