Ein Tanzstück für die Alarmgesellschaft

Tanzwerke Vaněk Preuß, Bonn

 

Nachtkritik von KLAUS KEIL

(von der Premiere in der Brotfabrik Bonn am 22.06.2017)

 

Was ist Rot? Schon klar, eine Farbe. Aber Rot ist mehr. Rot hat immer schon und in allen Kulturen auch eine symbolische Bedeutung, die bis in den Alltag hinein reicht und sich dort mit der realen Bedeutung vermischt. So steht Rot für Energie, Leidenschaft und Liebe (rote Rosen), wird aber auch als Rotlicht ganz praktisch zu Heilzwecken verwendet.

Doch Rot schafft auch negative Assoziationen. Da sieht jemand Rot oder jemand wird rot vor Wut. Rot signalisiert Gefahr. Die reicht bis zum berühmten Roten Knopf, der, einmal gedrückt, die Apokalypse der Menschheit hervorrufen kann. Damit es nicht so weit kommt, werden rote Linien gezogen. Besonders Barack Obamas Redlines sind weltberühmt, da er sie immer weiter verschoben – und damit wertlos gemacht hat.

Wenn sich jetzt die Bonner „Tanzwerke Vanek Preuß“ an die Inszenierung roter Linien machen und dieses Tanzstück der „Alarmgesellschaft“ widmen, zeigen schon diese beiden Einlassungen, dass ihre Gesellschaftssicht von Abgrenzungen á la Roter Linien gar nichts hält und wir vom Daueralarm Gestressten wieder zurück kehren sollten zur positiven Urkraft des Lebens. Deren rätselhafte Widerständigkeit, so Guido Preuß, lässt uns allem Alarm zum Trotz immer wieder neu beginnen.

Diesen Gedanken der permanenten Beständigkeit dieses Gesellschaftsmodells setzen Vanek Preuß auf eine geradezu grandiose Weise in ihrem Tanzstück „Auroras Redlines“ um. Langsam ansteigend legt sich Morgenröte über den gesamten Bühnenraum. Aurora erwacht. Auch wenn sie für das Stück titelgebend ist, bestimmt gleich nur noch ihre große Schwester Sol, die Sonne, mit brandheißem Rot die Szenerie. Der Lichtdesigner Florian Hoffmann schafft mit wechselndem Front- und Seitenlicht, mit blutroten Lichtbatterien im Background, gezielten Spots und abgestimmter Rotdämmerung einen variablen Lichtraum von Rot, der jeglichen Gedanken einer Redline im Nichts verschwinden lässt. Damit trägt er wesentlich zum Gelingen der Inszenierung bei. Übrigens ebenso wie die an- und abschwellenden Musikeinspielungen von Cio dór, Empty Set und Morton Feldman, die Karel Vanek für den Soundscape vermischt. Durchgängig aber wird die Szenerie vom Meeresrauschen und je nach szenischem Moment schwächer oder stärker ausgeprägter Brandung von Pacific Oceans hinterlegt. Damit erweckt die Inszenierung den Eindruck eines, ich nenne es mal: choreografischen Biotops, in dem die negativen Rot-Assoziationen allesamt aufgehoben sind. Hier wird Standhalten signalisiert. Den anschaulichsten Beitrag zu diesem Standhalten bringen natürlich die drei Tänzer Guido Preuß, Karel Vanek und vor allem Tobias Weikamp ein, der in einem grandiosen Solo die Elastizität des Körpers auf eine faszinierend künstlerische Weise ausschöpft.

Anfangs erscheinen in der ansteigenden Morgenröte nach und nach die Umrisse einer Masse, die sich erst bei fortschreitender Bewegung als Körperfragmente zeigen. Halb liegend, sich auf den Schultern abstützend beginnen die Körper, sich zu dehnen, zu strecken, die Position zu verändern, um die Körper zum Schluss, nur auf den Schultern stehend, wie mahnende Kerzen im Raum stehen zu lassen. Das ist sichtbar mit einer ungeheuren Kraftanstrengung verbunden, die von den Dreien (auch bei späteren Figuren) mit einer bewundernswerten ästhetischen Eleganz des Körpers verbunden wird. Bis auf einen Tanzslip sind die Tänzer nackt. Getanzt, oder besser: performt wird durchgängig in slow motion. Das erfordert schon die geniale Körper-Choreografie, die die Tänzer mit ihren langsamen Verformungen des Körpers und der Gliedmaßen teils wie amphibische Wesen oder Insekten aus den Anfängen der Erdgeschichte wirken lässt, einer Zeit, in der nur die Evolution Redlines schrieb. Tanzwerke Vanek Preuß schreiben mit ihrer Inszenierung die Tanzgeschichte fort. Ihr konzeptuelles Vorgehen erinnert an den Klassiker des zeitgenössischen Tanzes, Xavier Le Roy, der 1998 mit seinem Solo Self unfinished die Metamorphose des Körpers als Forschungsgegenstand thematisierte. Diese Phase der Körperanalyse ist längst Tanzgeschichte. Zwanzig Jahre später gehen die Tanzwerke Vanek Preuß weit darüber hinaus. Ihr choreografischer Körper ist Träger von Erfahrungen und Erinnerungen, die eine Flucht vor der eigenen Vergangenheit nicht zulassen. Standhalten ist ein Muss.

Choreographie: Karel Vaněk & Ensemble ● Tanz: Guido Preuß, Karel Vaněk und Tobias Weikamp ● Regie: Karel Vaněk ● Konzept, Dramaturgie: Guido Preuß