Verdammt in der Thesenhölle – Choreograf Richard Siegal vollendet seine Trilogie zu Dantes „Göttlicher Komödie“:„Three Stages: Model + In Medias Res + El Dorado“

Nachtkritik von Nicole Strecker

In dieses Paradies möchte man aber lieber nicht geraten. Raumberstende Klanggewitter, Lichtstörungen, schmutzig-graues Wasser, das die Bühne vollsuppt. Und zwei adam-nackte Menschen, denen die Glieder wegknicken und die offenbar eine schwere, niemals zu tilgende Schuld quält. Dante? Eher schon Miltons „Paradise Lost“. Oder eben: Die freie Fantasie von Richard Siegal, der mit dem von ihm „El Dorado“ genannten dritten Teil seine Trilogie zu Dantes „Göttlicher Komödie“ beendet. „Three Stages: Model + In Medias Res + El Dorado“ so der lange Titel für einen langen Abend.

Schon der italienische Dichter war nicht gerade zimperlich mit Apokalypsen- und Splatterfantasien und seine „Göttliche Komödie“ wird gemeinhin weniger als Himmelfahrt denn als Höllensturz gelesen. Aber gäbe es ein Ranking der finstersten Dante-Adaptionen – der amerikanische Choreograf Richard Siegal läge gewiss ziemlich weit vorn. Von wegen Purgatorium und Paradies. Bei ihm dauert das Inferno gefühlt ewig, konkret: viereinhalb Stunden, und darin schickt er so ziemlich jede Erlösungsfantasie zum Teufel, die der Mensch sich mal ersonnen hat. Der klassische Tanz? Zur Hölle damit. Utopischer Widerstand und Revolutionen? Die Hölle auf Erden. Und Religionen, Liebe, die Kunst? Hölle, Hölle, Hölle.

Richard Siegal „Model“ und ist – rückblickend betrachtet – noch der gelungenste, schönste Teil. Immerhin zirkeln hier seine famosen Tänzer auf Spitzenschuhen und Söckchen als cool-sexy Dämonen und Schimären die Höllenkreise ab und zerlegen souverän das Ballettidiom, also eben das Modell des Tanzes schlechthin. Vogelgleiches Aufflattern der Arme, schiefe Hüften, schneidig die Luft zersäbelnde Beine. Getanzte Hermaphroditen-Erotik und extravagantes Bewegungsmaterial, was den Ex-Forsythe-Tänzer Siegal als einen der talentiertesten Adepten der Dekonstruktivisten-Schule kenntlich macht. Aber wehe, wenn Siegal der dramaturgische Ehrgeiz packt.

Das geschieht dann leider ab Teil 2 seiner Trilogie: dem Purgatorium, in dem allerdings wenig gereinigt, dafür viel geschmutzt wird. Die Tänzer manschen auf einer Baustellen-Bühne mit Zement und Farbe und proben mit vermeintlichen Widerstandsikonen wie Ulrike Meinhof den Aufstand. Aber man weiß ja: Wer Sünden radikal tilgen will, schafft selber neue. Womit Siegal bei der Urfrage seiner Trilogie wäre: Was bringt überhaupt das Böse in die Welt? Das klärt sich in Teil 3: Siegals Paradies.

Statt eines krawalligen Ensembles gibt es nun nur noch zwei Tänzer auf der Bühne: Corey Scott-Gilbert, ein Ausnahmetänzer mit einem begnadeten Körper: schlanke Muskeln, großgewachsen und trotzdem superflexibel – der Usain Bolt des zeitgenössischen Balletts. Und der 77jährige Gus Solomons junior, ein Held des postmodernen Tanzes. Die beiden begegnen sich wie Vater und Sohn. Sie stehen einander gegenüber, imitieren in einer wunderbar behutsamen Gestenchoreografie die Bewegungen des anderen – als blickten sie in einen Spiegel und sähen ihr jüngeres beziehungsweise älteres Ich. Im Hintergrund kniet eine Frau, die mit ihrer üppigen Weiblichkeit aussieht wie eine Fleisch-gewordene Venus von Willendorf. Sie ist das ewig Weibliche, das das männliche Ego hinanzieht. Denn wenn dann noch das Orakel aus der Ödipus-Sage zitiert wird und der ältere den jüngeren Tänzer als „Motherfucker“ beschimpft, wird vollends klar, was Siegal als männliche Urschuld ausfindig macht: das ödipale Begehren der Mutter.

Andererseits: So ganz ernst nehmen muss man diese Botschaft wohl nicht, denn die Szene bleibt nur oberflächlich eingestreute Referenz – wie Siegal überhaupt mit Theorien, Zitaten und sonstigen Bildungsbrocken um sich schmeißt als wäre er Nietzsches übermenschlicher Wertezertrümmerer. Ist das noch Sarkasmus oder schon kindisch? Siegals „El Dorado“ jedenfalls verheißt trotz Goldregen, paradiesischer Nackigkeit und göttlichem Auge am Bühnenhimmel keine Erlösung. Auch hier schleift er vor allem mit patzig-nerviger Provokationslust letzte Hoffnungs-Bastionen der Sinnsucher: Die Liebe und die Kunst.

Obwohl sich solche inhaltlichen Schwächen schon in früheren Stücken von Siegal bemerkbar machten, ist er hierzulande immer noch die große Hoffnung des freien Tanzes. Seit kurzem hat er für seine Kompanie „Ballet of Difference“ neben der Stadt München einen zweiten Kooperationspartner: das Land NRW und die Stadt Köln, die sich freut, wenigstens teilzeitweise eine halbe Kompanie ihr eigen nennen zu dürfen. Und klar: Mit Richard Siegals Forsythe-geprägter Ästhetik grenzt sich die Domstadt deutlich von Martin Schläpfer im benachbarten Düsseldorf ab und garantiert trotzdem hochvirtuosen Spitzentanz. Doch nach seinen letzten Arbeiten, zu denen eben auch sein Höllentrip zählt, kann man nur hoffen, dass er sich bald einen energischen Dramaturgen zulegt. Der strebsame Zeitdiagnostiker Siegal ist verloren im Ideen-Paradies. Der Choreograf in ihm hat den göttlichen Funken.