über den Augenblick hinaus…

PINA BAUSCH UND DAS TANZTHEATER WUPPERTAL…GESTERN, HEUTE UND MORGEN

Ein Kommentar von Klaus Dilger

anlässlich der Vorstellung der neuen künstlerischen und geschäftlichen Leitung des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch

HEUTE…

„Fast die gesamte Tanzwelt hat sich in diesem Konflikt hinter Binder gestellt…“ behauptet die Berliner Zeitung am Tag vor der Wiederaufnahme des Doppelabends „Café Müller | Das Frühlingsopfer“ und ruft, zeitlich geschickt kalkuliert, einerseits ganz lokal die Wuppertaler CDU und Die Grünen auf, nach Aufkündigung der grossen Koalition im Wuppertaler Rat, die Entscheidung zur fristlosen Entlassung der Ex-Intendantin neu aufzurollen, sprich rückgängig machen zu lassen, und fordert kurz danach im gleichen Artikel die Entmündigung der Wuppertaler Verantwortlichen, indem sie behauptet, die Verantwortung läge offensichtlich nicht in „guten Händen“ und fragt fordernd „…warum mischt sich der Bund nicht ein?“.

Nun ist es ganz anders gekommen: eine Findungskommission des Beirats des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch hat einstimmig Bettina Wagner-Bergelt und Roger Christmann zur Künstlerischen Leiterin und zum Geschäftsführer des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch vorgeschlagen und der Finanz- und Wirtschaftsausschuss der Stadt Wuppertal hat heute Nachmittag ebenfalls einstimmig diesem Vorschlag zugestimmt. Eine gute Wahl für den jetzigen Zeitpunkt und die augenblicklichen Umstände, dies vorweg, denn beide sind einerseits kompetent und integer und andererseits erscheinen sie modest und sensibel genug, um den Tänzerinnen und Tänzern des Ensembles den Raum zu geben, den sie nun dringend benötigen, um durch zu atmen und sich erneut darauf besinnen zu können, wer sie sind, woher sie kommen und wohin sie wollen.

pina-bausch-fuer-die-kinder-von-gestern-heute-und-morgen-bayerische-staatsoper

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Ein erstes, anscheinend positiv empfundenes, Treffen mit den Tänzerinnen und Tänzern hat an diesem Vormittag im legendären Proben-Saal der Compagnie, dem Lichtburg, stattgefunden. Kein Wunder, denn Bettina Wagner-Bergelt kennt bereits beinahe die komplette Tänzerschaft aus den Proben für „Die Kinder von gestern, heute und morgen“, dem ersten Tanztheaterstück Pina Bausch’s, das an eine andere Tanzcompagnie, an das Bayerische Staatsballett, übertragen wurde, dessen Managerin sie viele Jahre lang gewesen ist, zuletzt als stellvertretende Direktorin an der Seite von Ivan Liška, ehe sie dort das Handtuch geworfen hat, weil sie die vollkommene Rückwärtswendung zum rein klassischen Ballett der russischen Schule nicht mittragen konnte, die Igor Zelensky als Nachfolger Liška’s der Compagnie verordnen wollte und dies auch getan hat. Unter anderem hat Zelensky das soeben ins Repertoire geholte „Für die Kinder von gestern, heute und morgen“ von Pina Bausch umgehend wieder abgesetzt.

Wagner-Bergelt und Christmann werden das Tanztheater formal erst einmal bis zum Ende der Spielzeit 2020/21 leiten. Dies gibt dem, namentlich noch unbenannten, Expertenteam die nötige Zeit, um Personen, Kriterien und Handlungsmaximen zu entwickeln, die das Tanztheater in die Zukunft führen sollen. Sollte sich herausstellen, dass das jetzt benannte Leitungsteam auch von den externen Experten favorisiert wird, stehen diese nach jetzigem Stand und Aussage auch über 2021 hinaus zur Verfügung. (Für die Bekanntgabe der Besetzung des Expertenkreises werden die Entscheidungsträger die finale Zusage aller Angefragten abwarten, so Dr. Slawig in der Pressekonferenz)

Für-die-Kinder-von-gestern-heute-und-morgen-©Wilfried-Hösl-Julie-Anne-Stanzak-und-Severine-Ferrolier

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Eine, wie es scheint, sanfte Aufnahme der Führung, die dennoch sehnsüchtig erwartet wurde, und die, so die Aussage auf Nachfrage, der Compagnie auch die dringend erhofften Neukreationen bringen wird, und seien sie zunächst nur in Form von Eigenkreationen des künstlerischen Personals, da die Verpflichtung hervorragend geeigneter Choreografen weniger eine Frage der Künstler ist, die hierfür in Frage kommen, als vielmehr der zeitlichen Vorläufe, die hierfür notwendig sind. Denn, und auch dies hat das neue Leitungsteam unisono und ohne zu zögern bestätigt, es gab „bei Weitem“ weder einen fertigen, umsetzbaren Spielplan von Frau Binder, wie diese immer wieder behauptet hatte, noch fertige Pläne für die erwarteten Neuinszenierungen.

Diese Expertise zweier international hocherfahrener Fachleute dürfte auch Binders Glaubwürdigkeit und Aussichten in einem Arbeitsgerichtsprozess massiv erschüttern, sollte er am 13.Dezember fortgesetzt werden.

GESTERN…

Angesichts einer immer deutlicher durchscheinenden Faktenlage, nicht nur bezüglich des unspielbaren Spielplans, ist zu hoffen, dass sich die Versuche einzelner  Medien, die sich in der Vergangenheit sehr einseitig positioniert hatten, in Grenzen halten werden, das Augenmerk ihrer Berichterstattung auf die Rechtfertigung ihres Handelns in den letzten Wochen und Monate legen zu wollen, und stattdessen den wieder aufgenommenen Transformationsprozess unter dieser neuen Leitung kritisch, aber objektiv und integer, begleiten werden.

Es ist offensichtlich, dass in dieser Causa mehr als nur ein Fehler gemacht wurde, und auch, dass es nicht das Dümmste ist, Fehler zu korrigieren sobald sie erkannt worden sind, um Schaden abzuwenden, einzugrenzen oder zu minimieren. Das kann und muss von Verantwortlichen erwartet werden.

Es ist jedoch wenig sinnvoll und zweckdienlich weiterhin nur zu rufen, jemand habe Fehler gemacht, wenn dieser Selbige doch offensichtlich längst erkannt hat und nun versucht, diese zu korrigieren.

PRESSEBILDER-PINA-BAUSCH-AUF-DEM-GEBIRGE HAT MAN EIN GESCHREI GEHÖRT-TANZweb

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Eine Kernfrage bei der Aufarbeitung der Causa lautet auch: War es ein Fehler Adolphe Binder als Intendantin und Künstlerische Leiterin des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch zu entlassen oder nicht vielmehr sie überhaupt einzustellen? Und wie konnte es zu diesem Debakel kommen?

Sollte sich erweisen, dass Art, Umfang und Geschwindigkeit des Weiterentwicklungsprozesses unter Frau Binder das künstlerische Erbe Pina Bausch’s und das bestehende Dreigenerationen – Ensemble des Tanztheaters, das dieses Erbe leben und weiterreichen soll, substantiell gefährdet hat, dann war Handeln geboten, egal wie Viele sich hinter wen gestellt haben sollten, wie die Berliner Zeitung behauptet. Hierin eingeschlossen die in ihrer Qualität sehr unterschiedlich beurteilten „Neuen Stücke“, die in diesem Prozess entstanden sind. Und hieraus müssen dann auch Lehren für die nahe Zukunft gezogen werden.

All dies rechtfertigt natürlich nicht die Mittel wie sie teilweise angewandt wurden, gemeint ist hier die Weitergabe von betrieblichen Interna an drei Medien, wofür sich die entsprechenden Personen auch werden verantworten müssen. Aber: Das Erbe Pina Bausch’s und des Tanztheater Wuppertal haben es verdient, sich eine objektive Sicht anzueignen und endlich zu versuchen, das Geschehen gewissenhaft, integer, vielschichtig und ergebnisoffen zu untersuchen und aufzuarbeiten.

Auch wenn mit dem Engagement von Bettina Wagner-Bergelt und Roger Christmann neue Fakten geschaffen wurden, es wäre für alle Beteiligten am Besten, wenn sich die Parteien möglichst zeitnah doch noch zusammen setzen und versuchen, den Konflikt aussergerichtlich beizulegen und zu einem raschen Ende zu bringen. Dies würde möglicher Weise enorm dazu beitragen, das Tanztheater Wuppertal in seinem Inneren wieder zu befrieden.

Dass ohne einen beiderseitigen Willen zur Zusammenarbeit eine Rückkehr in die Ausübung künstlerischer Verantwortung ausgeschlossen ist, wie sämtliche Erfahrungen und Ergebnisse in diesem Bereich belegen, ganz gleich wie die Urteile der Arbeitsgerichte hier ausgefallen sind (Siehe Beispiel Volkstheater Rostock vs Sewan Latschinian),  sollte auch Frau Binder, in ihrem eigenen, aber auch im Interesse des Tanztheaters klar sein.

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MORGEN..

Würden wir Heute eine Botschaft ins All senden wollen, um außerirdischem Leben ein Bild unseres Entwicklungsstandes auf dem Planeten Erde zu geben, wie wir es seit 1977 immer wieder tun, dann wäre eine solche Botschaft im Jetzt und Hier kaum denkbar ohne die Widersprüchlichkeit der Bilder von zahllosen Kriegen und der ständigen, auch erfolgreichen Versuche, diese zu überwinden, aber auch kaum ohne die Informationen über die bedeutendsten Künstler, einschliesslich und mittels deren Werke, in bestmöglicher Aufzeichnung und Wiedergabe, die uns augenblicklich zur Verfügung stehen und die uns ein menschliches Antlitz verleihen. Dass das Werk von Pina Bausch, in ihrem steten Bemühen, durch den Tanz eine Sprache für das (irdische, menschliche, oder sogar in parallelen Welten stattfindende) Leben zu finden, auch Teil dieser Mission wären oder sein müssten, als non-verbale Botschaft, „wer sind oder waren wir Menschen“, steht ausser Zweifel.

Es ist nun Sache von Bettina Wagner-Bergelt und Roger Christmann dieses Erbe in den kommenden Jahren in die Zukunft zu führen. Das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch und Pina’s Erbe haben es verdient, dass man | frau dies ohne jegliche Einschränkung zulässt.

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