I am still here! – Ein turbulentes Abschiedskarrussel

Premiere von „Neues Stück II“

Eine Kreation von Alan Lucien Øyen für das „Tanztheater Wuppertal Pina Bausch

 

Die Nachtbesprechung  von Guido Preuß

– Darf ich Ihnen eine Frage stellen? Haben Sie Angst zu sterben?

– Nein. Ich habe Angst vor dem Leben.

– Das ist doch das Gleiche!

Die Frage stellt die wunderbare Nazareth Panadero. Genüsslich rauchend sitzt sie da und ist als einziger Gast im Anschluss an eine Beerdigung übrig geblieben. Der da Angst vor dem Leben hat, ist ein junger Mann (Çağdaş Ermis). Er gestattet ihr solange zu bleiben, bis er aufgeräumt hat. Sie amüsiert sich über das deutsche Wort „auf-räumen“ und zerdehnt es zu Beginn der kleinen Szene, die im letzten Viertel des ausladenden Abends spielt.

Ein weiteres Amuse-Gueule gefällig?

Kommt eine Frau zum Bestatter. Sie (Nayoung Kim) trägt einen schwarzen Tüllturban und ein schlichtes, schwarzes Minikleid.  Aus ihren Augen hängen rote hüftlange Kordeln. Mit starkem koreanischen Akzent fragt Sie noch im Reinkommen „Tut Ihnen mein Verlust leid?“. Der Bestatter (Andrey Berezin) in einem altmodischen Sakko mit Krawatte und Lackschuhen ausstaffiert, antwortet ihr mit starkem russischem Akzent „selbstverständlich“ und beginnt dann ohne Überleitung zu spekulieren, ob der Tod gewaltsam und plötzlich eingetreten sei und was die Ursache des Todesfalles wohl gewesen sein könne: „war es eine schlimme Krankheit wie Aids oder Krebs?“. Er beginnt zu Rauchen und bittet sie darum, sie möge den Aschenbecher herüber reichen. Sie reicht ihm daraufhin prompt eine Urne, die dekorativ im Ladenfenster steht und stellt richtig „Er hat sich erhängt.“

Seine Anschlussfrage ist so grotesk wie logisch: „war er schwer?“

Aber da geht noch was. Er schlägt ihr vor, sie könne Geld sparen, wenn sie ihren Mann „mit einer alten Tunte gemeinsam begraben“ ließe. Das würde die Kosten senken und einen Homosexuellen mit im Grab zu haben sei praktisch, weil: „keine Kinder, keine Verwandten. Alles kann so bleiben, wie Sie das möchten!“

Neues Stück II | Eine Kreation von Alan Lucien Øyen | Tanztheater Wuppertal Pina Bausch | UA 2. Juni 2018

Neues Stück II | Eine Kreation von Alan Lucien Øyen | Tanztheater Wuppertal Pina Bausch | UA 2. Juni 2018

Was wird hier gespielt?

Eine weitere Szene, die sich einbrennt: Eine schöne, hoch gewachsene blonde Frau (Julie Shanahan) in einem bodenlangen Cape wird umringt von eifrigen Helfern hereingeführt. Man zupft an ihr herum, lässt sie in andere Schuhe hineinschlüpfen. Kurz zuvor wurde durch flink herein geschobene Möbel und Requisiten eine improvisiert wirkende Filmkulisse vom insgesamt 16köpfigen Ensemble eingerichtet. Zentraler Ort in dieser Szenerie mitten auf der großen Bühne ist ein alter und breiter Sessel. Das Cape wird ihr weggezogen und die als Diva eingeführte Blonde nimmt nun Platz. Ein vorsintflutlich wirkender, riesiger Scheinwerfer wirft ein grelles Stummfilmlicht aus der Höhe des Schnürbodens auf diesen Ort. In der harten, rechteckigen Lichtkante sitzend wirkt die blonde Schönheit wie einem Bild von Edward Hopper entsprungen. Alle Helfer verlassen die Szene, fliegen förmlich hinaus. Nur ein Mann (Rainer Behr) bleibt und beobachtet das Ganze. Er steht lauernd einige Meter entfernt an einem quadratischen Holztisch. Stille. Sie nimmt einen Revolver und setzt ihn an ihre Schläfe. Er am Tisch hat unterdessen einen Schuh ausgezogen und lässt diesen unvermittelt mit voller Wucht auf den Tisch krachen: Schuss! Der Kopf der Blonden kippt nach hinten weg, sie erschlafft und ist tot. Dieses Bild bleibt nur kurz stehen. In dieser „Totzeit“ werden alle umliegenden Requisiten und Möbel abgetragen. Und das in so großer Eile, dass die vormals Tote schon 10 Sekunden später alleine auf der Bühne im harten Licht „aufwacht“. Dann erhebt sie sich. Lichtwechsel. Das Ensemble fliegt aus Türen und Gassen wieder herein. Die Darstellerin lässt sich an der vorderen Bühnenkante frisch machen. Sodann werden alle Requisiten in Rekordzeit wieder hineingetragen, die bekannte Szenerie frisch arrangiert und das Ganze geht ohne Variation von neuem los. Irritierend ist der Umstand, dass hier eine offensichtlich traumatische Erinnerung als Dreh einer Filmszene nachgespielt wird. Wenn die „action“ dann geschieht, ist aber Niemand da: kein Filmteam, auch keine Kamera. Diese Rolle übernimmt der Blick der Zuschauer.

Neues Stück II | Eine Kreation von Alan Lucien Øyen | Tanztheater Wuppertal Pina Bausch | UA 2. Juni 2018

Neues Stück II | Eine Kreation von Alan Lucien Øyen | Tanztheater Wuppertal Pina Bausch | UA 2. Juni 2018

Also, womit haben wir es hier zu tun?

Es ist 19:25. Die letzten Gongs ertönen und ein ausverkauftes Opernhaus in Wuppertal nimmt Platz. Mit Spannung wurde diese Premiere von „Neues Stück II – Eine Kreation von Alan Lucien Øyen“ für das „Tanztheater Wuppertal Pina Bausch erwartet“. Nur 4 Wochen reine Probenzeit mit dem Ensemble hatte das Kreativteam, um dieses Stück auf die Beine zu stellen. Schon im Einlass läuft eine sanfte Hintergrundmusik wie in einem 5-Sterne-Hotelfoyer aus Filmen der 60er Jahre. Auf der Bühne befinden sich bereits ein paar Darsteller. Links sitzt ein Mann auf einem Stuhl und wartet. Eine Frau (Tsai-Chin Yu) sitzt in der Bühnenmitte an eine Wand gelehnt und raucht. Eine andere (Aida Vaineri) kommt herein und beginnt mit Kreide um die sitzende Raucherin ein stilisiertes Haus auf die Wand zu malen. Kurz vor 19:30 wird die Kreidezeichnung wieder weggewischt. Wer das nicht mitbekommen hat, wird es nicht mehr sehen. Das Licht im Zuschauerraum ist noch an und Nazareth Panadero bittet in sehr familiärem Tonfall die Gäste, ihre Handys abzuschalten, keine Ton und Filmaufnahmen zu machen. Alles sehr beiläufig, daher winkt sie auch sofort den aufkommenden Applaus ab. Sie weist darauf hin, dass sie die Menschen im Publikum ja bereits gut kenne. In der Tat ist sie seit 1979 Teil des Ensembles und somit „Urgestein“. Das Stück scheint nun begonnen zu haben.

Die Gestaltung des Bühnenraumes erzählt schon sehr viel bevor überhaupt etwas Greifbares passiert: Wir befinden uns offensichtlich in einem alten Theater. Große Stellwände teilen den Bühnenraum in diagonaler Ausrichtung. Es ist unklar, ob die Zuschauer und das Ensemble Backstage sind oder „On-Stage“ als im Ort des eigentlichen Geschehens. Das ist der suggestive Kniff des Bühnenbildners Alex Eales, der die um sich selbst rotierbaren von mehreren Seiten unterschiedlich dekorierten Wände zum sprechen bringt. Diese Studiowände liegen in der Optik irgendwo zwischen 20er und 50 Jahre des 20.Jahrhunderts. Wir sehen entweder die nackten Holz-Rippenkonstruktion oder stilisierte Andeutungen von tapezierten Hotelzimmern, Läden, Boudoirs, Maskenräumen. Auffallend auch die Nachttischlampen, die teils in großer Höhe montiert sind.

Rainer Behr (seit 1995 im Ensemble) eröffnet den Abend mit Körpereinsatz: er hangelt sich über einen Türrahmen am rechten Bühnenrand zur darüber hängenden Uhr, nimmt sie ab und hält ihren Mechanismus an. Es wird also die folgenden 3,5 Stunden immer 19:35 Uhr sein. Und die Zuschauer sind dadurch eingeladen, das sich auffaltende, verschlungene Knäuel aus Verlustgeschichten als einen einzigen und extrem gedehnten Moment zu betrachten und vielleicht sogar zu bestaunen.

Neues Stück II | Eine Kreation von Alan Lucien Øyen | Tanztheater Wuppertal Pina Bausch | UA 2. Juni 2018

Neues Stück II | Eine Kreation von Alan Lucien Øyen | Tanztheater Wuppertal Pina Bausch | UA 2. Juni 2018

Worum geht es denn nun eigentlich?

Nachdem die Zeit durch Reiner Behr angehalten wurde, gibt es eine Introduktion: Helena Pikon –  auch ein „Urgestein“, denn sie ist seit 1978 Ensemblemitglied –  kommt zu Andrey Berezin an einen kleinen Holztisch. Offensichtlich hat sie einen Verlust zu beklagen. Sie wird von ihrem Kollegen regelrecht verhört. Es wird nicht deutlich, ob das, was sie zu berichten hat, ein Traum oder eine persönliche Erinnerung ist. Offensichtlich geht es dem aus Bergen vielfach ausgezeichneten Regisseur und Choreografen Alan Lucien Øyen genau um diese Mischformen der uneindeutigen Wahrnehmung. Wer hier in den Geschichten und Szenen klare Antworten und eindeutige Identifikationsangebote erhofft, wird trotz Hyperrealismus virtuos enttäuscht werden. Lässt man sich allerdings auf das Angebot dieser Øyenschen poetische Freiheit ein, dann kann man in den folgenden zweimal 100 Minuten eine sehr persönliche neue Bühnen-Handschrift kennen lernen.

Die von Helena Pikon erzählte Geschichte wird sogleich im Hintergrund von zwei Mitgliedern des Ensembles gespielt. Eine Art „Live-Re-enactment“ das sich in ähnlichen Situationen durch den ganzen Abend zieht: Menschen erzählen und ihre Geschichte läuft zeitgleich in einer anderen Tiefenzone des Bühnenraumes ab, überholt zuweilen die  Erzählung oder greift in diese ein – wenn die Postmoderne zwei mal klingelt…-  doch zurück zu Helena Pikon und der ersten Verlustgeschichte: erst mal wird telefoniert, die Zuschauer hören das Gespräch. Helena Pikon möchte wissen, was mit ihrem Bruder passiert ist. Er war zuletzt in der Türkei. Die agierenden Figuren scheinen äußerlich einer Vergangenheit entsprungen zu sein, wie es sie vielleicht nur in Bildern und Filmen gibt: sauber, ästhetisch, in der Farbpalette der 30- 50e Jahre gekleidet (zum gelungenen Kostümbild von Stine Sjøgren weiter unten).

Andrey Berezin steht mitten im Gespräch auf, geht selbst zum Telefon des im Hintergrund agierenden Darstellers und stellt von dort aus gegenüber der Frau mit der er eben noch am Tisch saß klar: „your brother is dead“.

Damit ist der spielerische Abschieds-Reigen des Abends eröffnet. Es werden weitere Todesmeldungen, Sterbeszenen, Beschwörungen vergangenen Glücks, verlorener Lieben und Bestattungen folgen. Persönliche Verluste, Geschichten von unvorbereiteten Abschied und der hilflosen Suche nach Formen der Trauer. Wir erfahren von Trennung, früh verstorbenen Eltern, einem Vatermord, der Suche nach Heimat, dem Kampf um eine angemessene Beerdigung, der unpersönlichen Hoheit von Zeremonien. Das Stück thematisiert auch die Schwierigkeiten, das Leben in der Gegenwart zu halten. Wiederholung und die Mechanik der Sprache zeigen: das Leben ist ein großes Provisorium! Es findet auf einer Probebühne statt und ist eine Dauerbaustelle. Man kann es sich nicht bequem machen, muss insistieren und durchhalten…

Neues Stück II | Eine Kreation von Alan Lucien Øyen | Tanztheater Wuppertal Pina Bausch | UA 2. Juni 2018

Neues Stück II | Eine Kreation von Alan Lucien Øyen | Tanztheater Wuppertal Pina Bausch | UA 2. Juni 2018

Und wie kommt der Tanz ins „Spiel“?

Getanzt wird meist „zwischendurch“ denn in all den Geschichten ist die Bühne einem dauernden Wandel und oft zur Unzeit einsetzenden Verschiebungen unterworfen.  – Die Menschen sind es, die augenscheinlich füreinander Lebens- und Spielräume gestalten und zur Verfügung stellen oder entziehen.  – Manchmal laufen Dialoge über den Tanz hinweg. In einer sehr berührenden Szene haben Jonathan Fredrickson und Douglas Letheren ein zärtliches und kämpferisches Duett. Sie spielen mit Kontaktelementen, balancieren an- und ineinander verkeilt ringend, umarmend und führen ein aufwühlendes Gespräch über die gemeinsame Vergangenheit. Einer von beiden stellt Fragen nach dem Muster „weißt Du noch…?“ und der andere verneint stets und sagt sogar einmal dezidiert „no, it was’nt like that!“ Das ist traurig und schön zugleich, denn die vergangene Liebe zwischen den Figuren, die sie in dem Moment verkörpern – vielleicht sogar eine persönliche Offenbahrung, das weiß man an diesem Abend nicht so genau – ist deutlich spürbar und das aus unterschiedlichen Motivationen stammende Ringen um die Deutungshoheit ihres Verhältnisses spiegelt sich im gemeinsamen Taumeln ihres Tanzes.

In einem anderen Duett hält Rainer Behr in einem kontaktreichen Stil seine Kollegin Tsai-Chin Yu, die immer wieder im Befehlston Dinge von ihm herbeiholen lässt. Besonders Kreide/ chalk will diese immer wieder haben und skizziert damit für den Zuschauer nicht sichtbare Dinge auf den Bühnenboden.

In verschiedenen Frauen-Soli sieht man „Bauscheske“ lange Arme mit der Unterseite nach vorne zeigend, ins Zentrum gerissene Ellenbogen und geballte Fäuste. Die Dauer der Soli und Duette  scheint kurz zu sein, oft sind sie eingepfercht in längere Spielszenen, Dialoge und Umbauten und laufen nebenbei. Was vielen Tanzepisoden hinsichtlich ihrer Bewegungsqualität gemeinsam haben, ist die Suche nach einer Richtung.

Nachdem eine lange Bestattungsfeier in einem durch Stühlen markierten Gedenkraum zu sehen ist – durch eine anrührend im Bühnenhintergrund live singende Helena Pikon begleitet – ereignet sich auf der Tanzebene ein shift: zu technoartigen Beats flippt Douglas Letheren regelrecht aus. Ein wohltuender Energiestoß, dem sich auch Rainer Behr expressiv und raumgreifend anschließt.

Es gibt Bewegungsbilder, in die das ganze Ensemble eingebunden ist: in einer Szene wird Helena Pikon im Bühnenvordergrund am Boden liegend mit den Schuhen der Anderen umhäuft. Sie steigt schließlich aus dieser Umrissform aus und gesellt sich zu dem nach hinten entweichenden Ensemble. Wie hier ein permanent fließender Abgang einer Gruppe in das Dunkel des Bühnenhintergrundes durch Umstellungen choreografiert wird, atmet eine an diesem Abend seltene Eigenzeit.

In einer weiteren Ensembleszene singt Regina Advento sehr überzeugend in ein altmodisches Stativmikrofon einen Song von Nat King Cole. Dazu gesellen sich alle anderen in Paaren in Standard-Tanz-anmutung. Ein gelber gigantischer Faltenvorhang nimmt ein von Julie Shanahan getragenes Kleid farblich auf und fasst das entspannte Gewoge der Paare auf der rechten Bühnenseite ein. Helena Pikon läuft zwischen den tanzenden Paaren suchend umher, denn sie hat keinen Partner (mehr).

Diese bittersüße Szene wandelt sich unversehens: auf der linken Bühnenseite sammeln sich in einem blauen „Herrenzimmer“ alle Tänzer des Ensembles und werden von Julie Shanahan mit Sekt versorgt. Auf der durch eine Studiowand abgetrennten rechten Seite beginnen die Damen damit, den gelben Vorhang Stück für Stück abzuhängen und die darunter liegende Tafelwand freizulegen. Der Bezug zwischen beiden Bühnenhälften wird in dem Moment deutlich als alle Männer einer nach dem anderen schlafend wie tot zu Boden gehen und Julie Shanahan sich erleichtert das Kleid abstreifen kann. Auf diesen Moment schien sie gewartet zu haben: endlich frei.

Neues Stück II | Eine Kreation von Alan Lucien Øyen | Tanztheater Wuppertal Pina Bausch | UA 2. Juni 2018

Neues Stück II | Eine Kreation von Alan Lucien Øyen | Tanztheater Wuppertal Pina Bausch | UA 2. Juni 2018

Totentänze oder tote Tänze?

Ein Sektionstisch wird hereingefahren. Darauf eine abgedeckte Leiche. Davor wird zum Dinner gedeckt. Die Gastgeberin, herrlich provokant von Emma Barrowman gespielt, bittet Helena Pikon zu Tisch. Im Hintergrund steht Nayoung Kim in einem grünen Kleid mit aufgesetzten Engelsflügeln als Kellnerin mit einer Flasche Wein. Die Gastgeberin drängt ihrem Gast förmlich auf, doch einmal Granatapfel zu versuchen. Sie lässt sich von zwei Anatomiegehilfen mit Mundschutz wie bei einer OP quer über die abgedeckte Leiche Zange, Schere und Arterienklemme reichen, die sie offensichtlich zum Verzehr ihrer Speise braucht. Helena Pikon hat nur 30 Minuten, um sich um die Angelegenheit ihres verstorbenen Bruders zu kümmern und daher wenig Appetit. Diese groteske Szene offenbart, dass Tote und Lebende einander brauchen: die Leiche unter dem Tuch (Nazareth Panadero) ist eine Mutter. Sie wird von ihrem Sohn (Eddie Martinez) zunächst an den Beinen dann komplett abgedeckt. Dann erwacht die Mutter wieder vollständig zum Leben und schminkt sich die Lippen. Zu stark, wie ihr Sohn findet. Doch sie genießt genau dieses „too much!“ und für die Dauer einer kurzen Szene sind Mutter und der ihr liebevoll zu Füßen sitzende Sohn vereint.

In einem nächtlichen Hotelzimmer gibt es eine allegorische Szene: ein übermanngroßes schwarzes Pferd und diesem vorgelagert Jonathan Frederickson und Julie Shanahan tänzeln selbstvergessen vor sich hin. Die drei Figuren nehmen sich gegenseitig nicht war. Dann beginnen auch die Bühnenelemente in eine Rotation zu verfallen. Gerade in dem die Grenzen zwischen Traum und Leben, Erinnerung und Phantasie verwischt werden, liegt wohl hier ein Appell an die Wahrhaftigkeit.

Neues Stück II | Eine Kreation von Alan Lucien Øyen | Tanztheater Wuppertal Pina Bausch | UA 2. Juni 2018

Und was hält das Alles zusammen?

Ohne Musik, Kostüme, Licht geht es nicht! Der Sounddesigner Gunnar Innvær arbeitet für das vom Regisseur Alan Lucien Øyen begründete weltweit tourende Ensemble „Winterguests“. Er steuert hier vorwiegend atmosphärische eigene Musiken bei, deren Einsatz vielen Szenen eine klare Grundemotion gibt. Ob das dem Stück insgesamt nützt oder ob weniger hier nicht mehr gewesen wäre, liegt im Ohr der Besucher*innen. Einen großen Anteil an der Bruttomusikzeit nehmen allerdings Musiken aus bekannten großen Filmsoundtracks ein: Abel Korzeniowski (A Single Man, Nocturnal Animals), Cliff Martinez (Traffic, Solaris, Drive), Jocelyn Pook (Eyes Wide Shut, Everest, Eine Nacht in Rom) aber auch der Klassiker Henry Mancini (hier mit Musik aus „Experiment in Terror). Agnes Obel, Nat King Cole, Billie Holliday, Tom Waits Carlos Gardel und viele Andere weisen in launigem Mix darauf hin, dass die Nähe zum filmischen Erzählen und zu Stilmitteln des Kinos bewusst gesucht wird. In der Tat erinnert die Form des Abends ja an Filme wie Inception oder Synekdoche, die dadurch besonders werden, dass sich verschiedene Realitäts und/oder Traumebenen durchdringen und überlagern. Auch wenn die Musik in den allermeisten Szenen zur Vereindeutigung der Stimmung eingesetzt wird, folgt sie doch einer erkennbar persönlichen Auswahl: melancholische, minimalistische Klaviermusiken kommen oft zum Einsatz, die eine ozeanische Weite evozieren.

Stine Sjøgren zeichnet für die Kostüme verantwortlich. Sie kleidet die Tänzerinnen und Tänzer mit legerer Eleganz in fließende Stoffe. Die Damen oft in Blumenmuster oder blasse z.B. gelb/blau Kombinationen. Sie unterstreicht die Persönlichkeit und die Generationenzugehörigkeit der Tänzer*innen. Der Look ihrer Kostüme geht hier Hand in Hand mit dem auf abgewetzten Charme vergangener Zeiten gestylten Bühnenbild. Die Anzüge, Hemden und Krawatten der Männer aber auch jugendlicher gekleidete Tänzer wie Pau Aran Gimeno (Baseballjacke) geben dem Kostümbild eine altmodische Strenge.

Martin Flack beleuchtet die Szenerie ausgestellt und mit extremen Kontrasten. Das dient der beabsichtigten Gesamtaura: harte Kanten, Lichtinseln, blendende Rücklichter und gleißende Reflexe. Er lässt herumlungernd wartende Raucher*innen in den Tiefen der Bühne verdämmern und schafft es auch Lichträume verschiedener Intensitäten und Temperaturen in der aufwändigen mobilen Bühne gleichzeitig nebeneinander zu schaffen. Während zum Beispiel die Sektparty der Männer mit Julie Shanahan in einem kalten Tageslicht stattfindet, „saufen“ die Frauen dahinter bewusst ab und verschwimmen dadurch zu Ballkleidfigurinen.

Dann wären da noch veränderliche Requisiten wie Zigaretten: so oft und auch ostentativ wird selten auf der Bühne geraucht. Immer steht irgendwo Jemand mit Kippe und beobachtet das Geschehen. Oft aus großer Distanz. Einmal sieht man an der hintersten Wand der Bühne direkt neben einem Notausgang ein Aufglimmen einer Zigarette. Dass das ein bewusst auf die Spitze getriebenes Mittel ist, wird durch ein Schild sichtbar, das man nur sieht, wenn man im Bühnenhintergrund zwischen den Kulissen hindurchlugt. Da steht ganz klar: „Rauchen verboten!“ Es fällt schwer, hier den nahe liegenden Verweis auf die ikonisch rauchende Pina Bausch nicht sehen zu wollen.

Dann noch die Kreide. Mit ihr wird auf den Boden gemalt zum Bespiel auf Koreanisch „ich liebe Dich?“ In Rainer Behrs Hand wird der Kreidestrich zu einer immer flacher werdenden Herz-Kurve während er bäuchlings nach hinten raus gezogen wird. Und derselbe schreibt mit Kreide und in voller Wut die Worte „I am still here / Ich bin noch da!“ auf eine Tafelwände. Drei seiner Kollegen nehmen ihn daraufhin wie ein Paket hoch und verwenden ihn als Ganzkörperschwamm. Sie schubbern ihn im Anzug solange gegen die Wand bis man von seiner Schrift nur noch Kreidewolken sieht. Er wird dann zu Boden gelassen, bleibt erschöpft und sich zusammengesunken sitzen. Später wird ihm Aida Vainieri noch stilisierte Engelsflügel rechts und links mit Kreide auf die Tafelwand malen.

Mit Kreideschrift erfahren wir auch, dass gleich die Pause kommt und es gibt ein Quiz, wo das Publikum durch Buchstabenraten schließlich auf den Namen „Douglas“ kommt. Jeder falsche Buchstabe führt allerdings neben dem entstehenden Namen zu Vervollständigung eines Galgenmännchens. Eine sehr kindliche Anspielung auf den Wettlauf zwischen Bedeutung & Sinn versus Verlust & Tod.

Und dann sind da noch die Gefäße und Behälter für das Vergangene, Verlegte und Verlorene: Koffer und Kisten. Allesamt haben sie einen Look, als wären sie gerade von der Titanic abgeladen worden. In einer Szene öffnet Aida Vaineri einen Koffer ihrer Mutter. Ein heller Lichtschein kommt daraus hervor während sie verzückt hineinschaut. Das Ensemble nähert sich mit Kerzen und stellt diese brennend in dem Koffer ab.

Ein anderer Koffer wird von Julie Shanahan und Çağdaş Ermis geöffnet. Aus dem Koffer, der sich dem Zuschauer nicht einsehbar in ihre Richtung öffnet, kommt eine erfrischende Brise, die beide in einen Glückszustand versetzt. Ein ansteckendes Gefühl, zumal es inden Zuschauerraum hineinzuwehen scheint.

Neues Stück II | Eine Kreation von Alan Lucien Øyen | Tanztheater Wuppertal Pina Bausch | UA 2. Juni 2018

Mehr als nur Scharaden der Selbstreferentialität!

„Sie haben keine neuen Nachrichten!“

So plärrt es aus einem von Nazareth Panadero immer wieder abgefragten Anrufbeantworter. Und fordert dazu auf, hier abschließend die besondere Mischung dieses üppigen Abends zu würdigen dessen szenische Überfülle hier aus Platzgründen nicht darstellbar ist.

Es dreht sich viel um Tote: einen Georg, einen Robert, Bob, es sterben Mütter, Väter Brüder, Geliebte. Und Sie leben dennoch, zumindest in der schwer organisierbaren Erinnerung. Der von verschiedenen Akteuren zum Teil herausgeschriene Satz „I am still here!“ bringt das auf den Punkt. Man weiß oft nicht, ob es die Lebenden sind, die unter ihrer fortdauernden Existenz – dieser permanenten Daueranwesenheit der Gegenwart –  leiden oder ob es die Toten sind, die nicht in Vergessenheit fallen dürfen, weil sie noch etwas zu erledigen hatten. Wir haben es schon gehört: Angst vor dem Tod und Angst vor dem Leben sind zwei Seiten der selben Medaille.

Wenn Aida Vaineri als sterbende Mutter in einem Bett sitzend ihre Tochter ( Stephanie Troyak ) bittet, näher zu kommen und sie schließlich in beschwörendem Tonfall darauf aufmerksam macht, wie schön die Vögel singen, dass alles gut sei, dann geht das an eine Schmerzgrenze, die man kaum aushalten kann. Die Mutter erklärt der Tochter, dass sie nun eine Reise mache, an einen anderen Ort. Sie bittet die Tochter, ihre Hand zu halten, bis diese kälter wird. Und erst wenn sie deutlich kalt sei, dann solle sie diese loslassen und ins Nebenzimmer gehen. Dort – das sehen die Zuschauer schon während der ganzen Szene – hat sich eine schweigende Gesellschaft versammelt. Die Tochter solle dann sagen „she is gone“. – Und genau so passiert es dann auch. Die Mutter stirbt. Irgendwann geht die Tochter durch die Kulissentüre auf die rechte hintere und einsehbare Bühnenseite und sagt den Menschen dort „she is gone“. Ein schwer zu verdauender Moment, der zu den Vielen starken des Abends gehört. Es gibt unvermittelte Todesnachrichten, Krankheitsdiagnosen, Abschiede, Trennungen etc. die uns überfordern und andere Momente des Lebens, die gerade dadurch schockieren, weil sie genau so eintreffen wie es zu erwarten war. In aller Banalität vermitteln solche Momente den Menschen: „genau so ist es und nicht anders – finde Dich damit ab!“

Alle diese schmerzlichen und zuweilen grotesken oder komischen Geschichten rund um Trennungen, Sterben, Abschied, Trauer und Verluste basieren auf biografischem Material der Darsteller, sind also „authentisch“. Eine besondere Wirkung der Inszenierung liegt darin, dass diese wahren Geschichten aber mitunter erscheinen wie trockene Synopsen, skizzierte und nicht zu ende entwickelte Short-Stories, denen man erst noch eine Form geben muss, damit sie überhaupt Prägnanz haben. Der Regisseur scheint genau an diesem Widerspruch interessiert zu sein, der sich in der Frage bündeln lässt: wie sollen wir uns treffen und betreffen lassen, wenn die schiere Fülle der Identifikationsangebote uns erschlägt? In dem altmodischen und zitathaften Dekor verbirgt sich also auch eine Kritik am medial gestressten Mindset der europäischen Zeitgenossen, also Uns. Warum können wir uns nicht einlassen auf die berührende Tiefe einer von Herzen kommenden Erzählung?

Die Inszenierung antwortet: weil alles dem Zwang zur permanenten Verschiebung unterworfen ist. Wände drehen sich deshalb ruhelos und aus einer Kirche wird ein Ballsaal. Das Dekor wechselt schneller als man nachfühlen kann, daher stumpft man vielleicht auch im Zuschauersessel irgendwann ab, wenn die zehnte Verlustgeschichte beginnt. Und genau darauf hat es Alan Lucien Øyen möglicher Weise abgesehen. Er hält den Zuschauern einen Spiegel vor. Allerdings sehr spielerisch und mit einem stets lachenden Auge.

Nazareth Panadero geht im letzten Teil des Stückes noch einmal zum schwarzen Bakelit-Telefon und diktiert ein Telegramm an einen Verstorbenen. „Wenn ich früher gekommen wäre, dann hätte es einen Unterschied gemacht. Stop. Aber so ist es nicht gewesen. Stop. Als ich kam, haben sie Dich gerade weggetragen. Stop.“ Und das Ganze spielt sie mit einer derart herzlichen Frische, die einem das permanente Rumreiten auf dem Todesmotiv leichter nehmen lässt. Als sich nach 3 Stunden und 40 Minuten der papieren-hölzerne Schluss-Vorhang langsam herabsenkt, während das Ensemble in einem exstatischen Slow-Motion-Taumel in den Bühnenhintergrund wegtanzt ist klar: das Spiel ist noch lange nicht aus! Begeisterter Premieren Applaus und Standing Ovations für das Ensemble und einen vom Publikum umgehend „adoptierten“ Regisseur Alan Lucien Øyen.

Empfehlung: unbedingt anschauen ! Die Premiere war erst der zweite Durchlauf… das Stück entwickelt sich also noch.

Neues Stück II | Eine Kreation von Alan Lucien Øyen | Tanztheater Wuppertal Pina Bausch | UA 2. Juni 2018

Neues Stück II | Eine Kreation von Alan Lucien Øyen | Tanztheater Wuppertal Pina Bausch | UA 2. Juni 2018