ABYSSOS – Tanzwerke Vanek Preuß
ÜBER DAS STÜCK
Abyssos
Tanzwerke Vanek Preuß
in der Brotfabrik Bonn
Abyssos (griechisch = gähnender Abgrund) befasst sich mit der Verunsicherung angesichts der Umwälzungen sowohl unserer persönlichen Lebenswelt als auch der global vernetzten Welt. Mit diesem Stück eröffnen die Tanzwerke Vanek Preuß die Trilogie „Der verunsicherte Körper“ und erforschen, wie sich Vertrauensverlust in die Gesellschaft und Abstiegsängste auswirken. „Die Menschheit befindet sich am Abgrund und bewegt sich in die falsche Richtung!“ sagte UN-Generalsekretär António Guterres vor der UN-Vollversammlung in New York im September 2021. Westliche Gesellschaften feiern Gewinner – also Menschen, die „oben stehen“. Abstieg gilt als Zeichen persönlichen Scheiterns. Verlierer – Menschen, die „unten stehen“, werden abgewertet und ausgegrenzt. In der Welt des „Wettbewerbs“, die ja angeblich alternativlos ist, gilt die einfache Formel: gut = oben und schlecht = unten. Der Westen hat sich zwar von vielen normativen Zwängen befreit, bezahlt dies aber mit Verlust an sicherem „Boden“. Abgründe, die sich zwischen Menschen auftun und unüberbrückbar erscheinen, sind für Abyssos ein Anlass zur tänzerischen Erforschung absteigender Spannungskurven und zugleich ein Auftrag zum Abstieg ins Bodenlose.
Choreografie/Regie: Karel Vanek – Konzept/Dramaturgie: Guido Preuß – Choreografische Assistenz: Nora Vladiguerova
Tanz: Sônia Mota, Josefine Patzelt, Guido Preuß, Tobias Weikamp – Musik: Angie Taylor – Kostüm: Melanie Riester – Licht/Bühne: Flo Hoffmann – Produktion: Tanzwerke Vanek Preuß, Brotfabrik Bühne Bonn
Gefördert vom Fonds Darstellende Künste aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen von NEUSTART KULTUR, Kunststiftung NRW, Konzeptionsförderung NRW des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW, Kulturamt der Bundesstadt Bonn.
VIDEO MIT AUDIODESKRIPTION
Tanzwerke Vanek Preuß zeigen auf der Brotfabrik Bühne Bonn
Abyssos – Tanz am Abgrund
von Thomas Linden 22. Januar 2022
Man muss kein Prophet sein, um der Menschheit zu attestieren, dass sie sich nahe am Abgrund befindet. Wir scheinen tatsächlich am Ende der Geschichte angekommen zu sein, wie es Francis Fukuyama der westlichen Zivilisation 1989 attestierte. Zugleich enthält der Begriff „Abyssos“ schon seit der griechischen Antike jene warnende Note, in der möglicherweise seine eigentliche Bestimmung zum Ausdruck kommt. Im Theater öffnet sich der Abgrund an der Rampe, wo Spiel und Realität aufeinander stoßen. Genau dort beginnt auch die aktuelle Produktion des Tanzwerk Vanek Preuß in der Brotfabrik Bonn. Sonia Mota sitzt an der Bühnenkante, dreht und wendet ihren Körper, spielt im Liegen mit ihren Händen. In jedem Moment wirken ihre Bewegungen wie aus der Spontaneität geboren. Tanz wird in dieser Eröffnungssequenz nicht als etwas definiert, das mit Leistung, Präzision und Kraft zu tun hätte. Vielmehr sieht man, wie sich ein Körper in Bewegung setzt, wie er seinen Ausdruck findet und zu kommunizieren beginnt, ohne dass er sich schon auf ein Gegenüber beziehen würde. Tanz ist hier Bewegung, die ganz aus einer spezifischen Person entsteht und von ihr erzählt.
Was das heißt, wird auch deshalb schnell deutlich, weil diese hell gekleidete Gestalt bald schon von einem Trio (Josefine Patzelt, Guido Preuß und Tobias Weikamp) in schwarzen Kostümen flankiert wird, dessen Bewegungsrepertoire aus konventionelle Gesten besteht. Alles schon einmal gesehen, möchte man ihnen zurufen. Man sieht, wie die kurzen abgehackten Bewegungen ausgedacht und eingeübt wurden. Dieser fatale Hang zur nachahmenden Schauspielgeste taucht an diesem Abend immer wieder einmal auf. Wo vorher Performance war ist plötzlich Kunsthandwerk. Da wünschte man sich mehr stilistische Konsequenz, zumal sich die Produktion ambitioniert zeigt.
Die Metapher des Abgrunds wird nicht leichtfertig bemüht. Wer vom Abgrund spricht, muss stets die eigenen dunklen Seiten im Blick behalten. Während sich die 72-jährige Sonia Mota als Person profiliert, agieren die drei schwarzen Akteure als Elemente eines archaisch-unbewussten Trieblebens. Gleich Amphibien müssen sie sich erst zum aufrechten Gang entwickeln. Es ist etwas Dämonisches in der Choreographie von Karel Vaněk, seine Gestalten wechseln wie gefallene Engel zwischen negativen und positiven Energien hin und her. Die bedrohliche Note des Abgründigen findet hingegen in Gesten der Furcht ihren Ausdruck. Der dunkle Grund ist tatsächlich auch in den Tanzformationen erkennbar, wenn die schwarzen Körper hinauf in die Lüfte steigen wollen. Diesen Bodensatz des Triebhaften formuliert die Choreographie treffend.
Ihr Solo erhalten nach Sonia Mota auch Tobias Weikamp und Josefine Patzelt. Wobei sich der Eindruck aufdrängt, dass es hier vor allem darum ging, ihnen die Möglichkeit zur tänzerischen Profilierung zu bieten, die sie dann auch nutzen. Während Tobias Weikamp durch seine dynamischen Schrittfolgen und Drehungen besticht, spielt Josefine Patzelt im Finale ihr dramatisches Potenzial aus. Diese letzte Passage erzählt von der Verehrung jener Menschen, die als erfolgreich gelten und der Angst der anderen vor dem Abstieg. Jene Energien, die innerhalb des Gefälles entstehen und eine Gesellschaft in ein nervöses, Orientierung suchendes Gebilde verwandeln, lassen Weikamp und Patzelt spürbar werden.
Der Sound von Angie Taylor forciert die Dramatik, wenn auf die Kälte fallender Wassertropfen immer wieder die Zündung eines Streichholzes folgt und die Bedrohung hörbar näher rückt. Mit ihrem Sujet weiß das Ensemble des Tanzwerk Vanek Preuß umzugehen, die individuellen und die gesellschaftlichen Abgründe werden konsequent ausgemessen. Das choreographische Material benötigt hingegen keine Anleihen im Break Dance, wie sie ein ums andere Mal eingestreut werden. Statt populäre Versatzstücke zu bemühen, sollten Vanek Preuß noch stärker auf die Bewegung des schöpferischen Körpers setzen.