bodyshots
ÜBER DAS STÜCK
Sie ziehen uns den Boden unter den Füßen weg, verursachen Unbehagen und Befremdung. Anthropomorphe Wesen, Artefakte, Zwitterwesen aus Beseelten und Unbeseelten, aus menschlichem Organismus und Maschine. Ihnen gegenüber erscheint uns plötzlich der eigene Körper ebenso fremd und konstruiert. In Zeiten postmoderner Körperdiskurse um Medien- und Biotechnologie, Digitalisierung und Videokörper, Computerfleisch und Prothesen kommt der ‚Puppe’, in all ihren modernen Erscheinungsformen wie Humanoiden, Androiden, Cyborgs und Avataren neue Bedeutung zu. Sie inszeniert sich selbst als Zwischenwesen: menschlich vertraut und als lebloses Objekt zugleich radikal fremd. Die Animation des Figurenkörpers durch menschliche Körper spiegelt uns die Brüchigkeit unserer Fantasien um natürliche und einheitliche Körperlichkeit.
Mit BODY SHOTS setzt CocoonDance seine dekonstruierenden Körperinszenierungen und die Suche nach dem noch ‚ungedachten’ Körper fort und entwirft eine quasimenschliche Form, indem sie die Akteure zu Doubles ihrer selbst nachbildet: Ersatzkörper, anonym, frei von geschlechtlichen, ethnischen und gesellschaftlichen Einschreibungen, die Identität allein durch Assoziationen von Gesten und Bewegungen erhalten, und im besten Fall zum ‚Einfühlungskörper‘ für den Betrachter werden, ihn zu Projektionen von Ängsten, Wünschen und Gefühlen einladen.
Von und mit: Fa-Hsuan Chen, Martina De Dominicis, Álvaro Esteban, Marin Lemić, Eleonora Vrdoljak, sowie Recherche: Werner Nigg • Choreografie: Rafaële Giovanola • Komposition: Jörg Ritzenhoff •
VIDEO MIT AUDIODESKRIPTION
AUSZUG NACHTKRITIK
Düstere Visionen, die gefangen nehmen…
Die Bonner Compagnie CocoonDance gastiert mit „Body Shots“ beim Festival „Move! – movextended“ in der Fabrik Heeder/Krefeld
Nachtkritik von Bettina Trouwborst
…Etwas unschlüssig steht ein Quintett in Schutzanzügen in einer Ecke des weißen Bühnenquadrats, das mit einem weiteren weißen Quadrat aus Stoff überdacht ist. Die drei Frauen und zwei Männer verlagern ihre Positionen wie in Zeitlupe. Dabei werden die Bewegungen immer steifer, der Blick ist starr, ja, vollkommen ausdruckslos. Wie ferngesteuert scheinen sie. Sind es die Überlebenden einer Apokalypse, von KI gelenkt? Oder sieht so der Mensch der Zukunft aus, von KI unterstützt?
Melancholie schwebt über der in sterilem Weiß gehaltenen Szenerie. Die Soundkomposition von Jörg Ritzenhoff mit vereinzelten Stimmen von Ferne erinnert an sorgloses Leben. 45 Minuten lang halten die Tänzer*innen ihre immense Körperspannung. Von der Schwerkraft zu Boden gezogen, liegen sie dort, in kaltem Licht, eingefroren in einem Impuls des Aufbäumens, einen Arm in der Luft, ein Bein leicht verdreht oder auch alle Viere gen Himmel gestreckt wie hilflose Käfer. Einige zucken. Doch dann, unmerklich, dringen Reste von Menschlichkeit durch…
…Ob Humanoide, Androide, Cyborgs oder Avatare – die weißen Gliederpuppen verstören und berühren zugleich. Wenn die bisherigen von Rafaële Giovanola erdachten Figuren durch ihre ästhetischen Formen und Moves faszinierten, nehmen die Gestalten in den weißen Anzügen vor allem deshalb gefangen, weil sie eine Vision aufzeigen. Und die ist düster.
Die Kreatur der Zukunft bewegt sich vornehmlich am Boden. In unendlichen Variationen, jeder für sich, oder, wie zufällig, in Gruppen, vegetieren sie formschön vor sich hin. Choreografisch einfallsreich geschieht das, beispielsweise wenn die Figuren, fast schwebend, in Seitenlage ausharren. Und dann flackert in den entseelten Wesen plötzlich so etwas wie Seele auf. Als ob ein Systemabbruch vorläge und das Menschliche mit seiner Sehnsucht nach Gemeinschaft in ihnen durchschlüge, nähern sich die Füße einander. Doch es reicht nur, um die Gelenke aneinander zu legen zu einem verloren wirkenden Bruchstück eines Freskos. In einer anderen Szene sind es die Handgelenke. Wunderbare Einfälle, die nahe gehen.
Die Recherchen zu neuen Bewegungsformen von Rafaële Giovanola und Rainald Endras (Dramaturgie), wissenschaftlich fundiert, bleiben ein aufregender Prozess. Immer wieder gelingt es, neue Bewegungsmuster mit nie gesehenem Vokabular zu kreieren – und diese mit einem zeitgeistig relevanten Überbau in Verbindung zu bringen. Ein ungeheuer kreativer Akt, der kein Ende zu kennen scheint.