GOLA 4th movement
ÜBER DAS STÜCK
Reut Shemesh persönliche Biografie ist geprägt vom Verlust der eigenen
Identität: Sie hat ihre Heimat Israel verlassen, ein gespaltenes Land,
dessen Zerrissenheit sich in den Familiengeschichten Vieler fortsetzt.
Als Kind, als Teenagerin und im Rahmen ihres Militärdienstes bei der
israelischen Armee mit einer Vielzahl von Zeremonien konfrontiert,
hinterfragt und analysiert Shemesh in GOLA zum einen diese Form des
ideologischen Theaters mit all seinen heroischen Gesten und kollektiv
geleisteten Versprechen und widmet sich zum anderen der Frage nach der
verlorenen Zugehörigkeit.
Beteiligte
Konzept, Choreografie: Reut Shemesh – Tanz, Performance, Kreation:
Brigitte Marielos Vargas Huezo, Mihyun Ko, Niv Melamed, Constanza
Javiera Ruiz Campusano – Bühne, Licht: Ronni Schendar –
Musikkomposition: Simon Bauer – Dramaturgie: Daniel Rademacher –
Kostüme: Ifat Kanfi & Andres Santiago Alvarez Rodriguez
VIDEO MIT AUDIODESKRIPTION
VIEL WIND
„Gola 4th Movement“ ist die vierte Überarbeitung des Stücks „Gola“ von Reut Shemesh, das 2017 entstand. Nun war die performative Choreografie, die sich um Form, Rhythmus und Dogma nationaler Zeremonien dreht, im Rahmen von „Move“ in der Krefelder „Fabrik Heeder“ zu sehen.
von Martina Burandt
Ein quadratischer, blank-weißer Tanzboden. In Blickrichtung geradeaus, mittig steht eine hohe schmale Stehle, die in unterschiedlichen Farben beleuchtet wird und an eine Siegessäule erinnert.
Vier Akteure – drei Tänzerinnen und ein Tänzer – finden sich nacheinander ein. Wie uniformiert, sind sie alle in weiße Overalls mit kurzen Hosenbeinen gekleidet. Jede(r) von ihnen trägt eine große weiße Stofffahne, mit einem abstrakt aufgesprühten schwarzen Aufdruck, an einem langen Holzstiel.
Kräftig schwingt der Tänzer seine Fahne durch, um sie dann wieder und wieder auf den Tanzboden knallen zu lassen. Die drei Tänzerinnen beobachten ihn und beginnen schon bald, es ihm gleichzutun. Plötzlich gibt eine Akteurin einen neuen Bewegungsimpuls und durchschreitet den schlagenden Kreis. Auch dies wird von den anderen beobachtet und schließlich gehen alle in Linien durch den Raum. Neue Impulse folgen und werden von der Gruppe aufgenommen. Es wird marschiert, gesungen, gerannt, gesprungen.
Und hier liegt auch das Problem dieser Choreografie. Sie berührt nicht. Eine Stunde lang allein diesen nicht enden wollenden einhämmernden Großgesten, den immer gleichen Formationen und dem quälenden Tempo zu folgen, ermüdet und lässt das Publikum seltsam distanziert zurück. Da fehlen inhaltliche Übertragungsmöglichkeiten und formale wie choreografische Kontrapunkte. Interessant dabei ist, wenn man vor der Vorstellung die „Physical Introduction“ mitgemacht hat. Denn das körperliche Verstehen des Abends ist bereichernd.
Zwischendurch gibt es kurze Breaks mit Einzelaktionen. Eine Tänzerin „friert“ sich unerwartet in einer Heldinnenpose ein oder die ganze Gruppe formiert sich für einen Moment zu einer Skulptur. Kaum kehrt etwas Ruhe ein, schon peitscht eine neue Idee, ein lauter Ruf oder raveartige Elektoklänge den gnadenlosen Rhythmus in die Bewegungen ein. Und schon werden die Fahnen wieder geschwungen und geschlagen. Die Luft in der Studiobühne wird mit den nicht enden wollenden Anstrengungen mächtig aufgewirbelt. Die Tänzer*innen scheinen manisch. Viel Wind entsteht.
Der Begriff „Gola“ geht auf ein hebräisches Verb zurück, das soviel wie „ausziehen“ oder „fortgehen“ bedeutet und im Nomen soviel wie „Verbannung“ oder „Exil“. In ihrem Stück „Gola“ befasst sich die in Israel geborene und aufgewachsene Choreografin Reut Shemesh mit Israels Nationalfeierlichkeiten zum Gedenken an die für das Land gefallenen Soldat*innen sowie mit dem Holocaust-Gedenktag. Aus diesem Blickwinkel heraus sieht sie auf ihre Herkunft zurück, wo das Erwachsenwerden stark von nationalen Zeremonien geprägt ist. Kinder, Jugendliche und junge Soldat*innen nehmen daran teil, wie an einer öffentlichen Theateraufführung.