DanceScreen 2019 + TANZRAUSCHEN Festival Wuppertal

Der Blick als Politikum

Dance&Dare begleitete das Festival in Wuppertal

Eine Reflexion von Annelie Andre 23.11.2019

Was kann Tanzfilm?

Warum Tanz filmen, festhalten, reproduzierbar machen? Warum ihn auf die Leinwand bringen, ihm die dritte Dimension stehlen? Was kann Tanzfilm, was die live Performance nicht kann?

Fehlt etwas oder eröffnen sich neue Welten?

Ich sitze gemütlich zurückgelehnt im Kinosaal, neben mir Bier und ebenfalls neben mir meine Kollegin. Neben ihr Popcorn und vor uns die Leinwand. So weilen wir also nebeneinander – Menschen, Dinge, eine Kinorealität. Wir richten unsere Blicke auf die Bewegung, die außerhalb stattfindet. Tut sie das auch innerhalb? Selten – zugegeben – selten. Ein Bild jedoch hat sich eingebrannt. Ein junger Mann aus dem Film „Gatha“ von Chenglong Tang, nur sein Gesicht ist zu sehen, Tränen, im Hintergrund eine eindrucksvolle tibetanische Berglandschaft. In ihm eine Mischung aus tiefem Schmerz, Trauer und Zuversicht. Die Langsamkeit und Purheit, die Möglichkeit, diesen intimen Moment so nahe zu sehen, bewegt mich. Das ist es wohl, was das Medium Film kann – zoomen und näher bringen, was sonst verborgen bliebe. Als könnten Augen in Momente fallen, in Momente, die sonst nur anderen gehören. Im Kino gehören sie dann auch ein bisschen mir.

Kamera und Macht

Die Kamera hat Macht. Der Blick wird gelenkt und geführt. Meine Augen werden zu Eindringlingen.

Sie dürfen das. Ich sehe Tanz an Orten, an die ich sonst niemals kommen würde. Ich sehe Bewegung in Räumen, die ich sonst nicht betreten dürfte. Ich sehe vor allem Menschen, die sich bewegen, die die Landschaft bewegen und mit ihr verschmelzen. Körpergrenzen lösen sich auf, Haut wird zu Wasser und Himmel zu Körper, wie im Film „In the Wild“ von Rita Nga-shu Hui. Ich nehme die Welt anders war, zumindest für einen Moment. In Zeitlupe sieht ein Lachen grotesk verzerrt aus, eine scheinbar beiläufige Geste wird zum Mittelpunkt der Handlung. Die Wahrnehmung von Zeit verschiebt sich ebenso wie die Grenzen zwischen Masken, Rollen, Menschen und Realitäten. Ich projiziere meine Gedanken auf nackte Rücken und laufende Beine. Ein Zeigen ist ein Aussetzen. Ein Öffnen und zur Schau Stellen. Das ist ein sensibler Moment. Für das Gezeigte und die Sehenden. Manchmal bin ich Voyeurin, manchmal neutrale Zeugin, manchmal Ausgeschlossene. Weil ich keinen Zugang finde, mich der Freiheit beraubt fühle, meinen Blick selbst zu lenken. Doch es tut auch mal gut, sich an der Hand nehmen zu lassen und den Blick, die Perspektive anderer einzunehmen. Empathie. Eintauchen. Ein politischer Akt.

Echt oder gespielt?

Mir fehlt die Echtheit in vielen Momenten. Ich sehe gespielte Emotion, überzogene Gestik und die zu gewollte Konstruktion von effektvollen Momenten. Die Distanz zur Bewegung und die zweidimensionale Erscheinungsform lässt mich oft etwas vermissen. Vielleicht ist es die direkte Kommunikation zwischen Darsteller*innen und Publikum in genau diesem gegenwärtigen Moment, die ich so liebe, wenn ich Tanz live sehe. Denn es ist lange vergangen, das, was ich im Film betrachte. Es kann immer wieder und wieder reproduziert werden, während sich die Welt im Außen und Innen ständig verändert. Es bedient zwar unser Bedürfnis, Dinge festzuhalten – gerade den Tanz als flüchtige Kunstform – und doch konstruiert es eine Realität, die durch das Ignorieren einer anderen zustande kommt. Eine Abgrenzung, ein in sich geschlossenes Konstrukt, das sich in Dauerschleife durch Köpfe walzt. Ich möchte gar nicht wissen, wie oft Szenen im Prozess der Produktion wiederholt wurden, dann zerschnitten, bearbeitet und neu komponiert, um schließlich das zu zeigen, was für uns sichtbar ist.

Lüge oder Kunstfreiheit, Nachteil oder Potenzial?

Dieses Vorgehen bietet natürlich auch die Möglichkeit, sehr punktgenau zu vermitteln, was man transportieren möchte. Manche Szenen sind im Film viel mehr en pointe als sie es im Theater jemals sein könnten.

Ich würde gerne all die Menschen aus der Leinwand hervorholen, sie an einem Ort versammeln und dann würden wir unsere Geschichten tanzen, stampfen und atmen. Mit Schweiß auf der Stirn und Lust in den Körpern. Die Smartphones bleiben zuhause. Tanzfilm, ein Zauber Und doch birgt der Film Geheimnisse in sich, die mich neugierig machen, mich verzaubern. Denn alles tanzt – auch Äste und Laken, Herzen und Räume. Es braucht keinen Theaterraum, keinen schwarzen Vorhang, keine großen Gesten. Der Tanz ist ein Motor, der wellenartig über Bildschirme schwappt und mich mitreißt. Die Bilder, die bleiben, die bleiben für immer. Irgendwo in Nischen meines Körpers, meines Geistes – gespeichert, doch nicht verschlossen.

Auch der Tanzfilm ist eine Nische, scheint mir. Wie könnte er noch zugänglicher, nahbarer gemacht werden? Die Arbeit von Jo Parkes in Form einer Video-Installation ist für mich ein gutes Beispiel, das zeigt, wie man Tanz als Bindeglied zwischen diversen sozialen Gruppen und Orten nutzen kann. Dokumentarische Fragmente, die von Menschen erzählen. Von ihren Sorgen, Freuden und Gedanken. Sie berühren mich und bestätigen, dass Körper, dass Tanz ein riesiges Potenzial hat, Menschen über Grenzen, Herkünfte und äußere Gegebenheiten hinweg zu verbinden. Der Film dient in diesem Kontext als wertvolles Medium, dies festzuhalten und Einblicke zu gewähren.

Der Blick als Politikum

Im Workshop „Camera – Body – Eye“ mit Florence Freitag und Camille Käse durften wir spielen. Mit Bewegung und Blick und Smartphone-Kamera. Film kann so simpel sein. Wie fühlt man sich, wenn man von fünf Kameras gleichzeitig gefilmt wird? Kann man die Kamera als Spielpartner sehen und sich freitanzen von dem Druck, etwas besonders Interessantes produzieren zu müssen? Wie betrachte ich Menschen und Körper, wie möchte ich angeschaut werden, was zeige ich und was soll verborgen bleiben?

In diesem Rahmen ist ein kleines Experiment entstanden. Ein kurzer Film, der eine Tänzerin zeigt, die frei im Raum improvisiert. Mit einer App habe ich im Nachhinein zwei Versionen daraus gemacht: einmal mit einem selbst verfassten Text und einmal mit einem Musikstück unterlegt. Wie verändert das auditive Element die Wahrnehmung des Filmes? Ich war erstaunt, wie schnell man mit sehr basalen Mitteln bewegte Bilder einfangen kann, die durchaus eine Aussage haben können. Etwas, das ich im Festivalkontext ein wenig vermisse: experimentelle low budget Filme, die mehr rau als glatt, mehr unfertig als ausgefeilt und mit weniger finanziellen Mitteln kreative Wege des Tanzfilmes erforschen und zeigen. Film kann durchaus künstlerische Forschung sein und sollte nicht nur als fertiges Endprodukt zutage treten.

HIER GEHT ES ZUM VIDEOEXPERIMENT Teil I – beginnend ohne Ton

HIER GEHT ES ZUM VIDEOEXPERIMENT TEIL II – beginnend mit Soundfile

Es gäbe noch viel zu sagen über die Flut an Bildern, die ich in nur drei Tagen erlebt habe. Die Rolle des Menschen im technologischen Zeitalter, Virtual Reality, Produktionsbedingungen im Film, die kuratorische Entscheidung über ein äußerst eurozentristisches Programm etc. Doch erstmal möchte ich mich weiter treiben lassen durch diese Landschaft aus filmischen Fundstücken, Emotionen und eingefangener Bewegung, die viele der unzähligen Formen des Tanzfilms widerspiegelt.