UAEszterSalamon_WarsandDancesPACTZollverein_im SANAA-Gebäude_Folkwang Universität der Künste_(c)LisaRave

„Wars & Dances“ der Berliner Choreographin Eszter Salamon als Co-Produktion von PACT Zollverein

Out of the blue

Nachtkritik von Melanie Suchy

Die Uraufführung ihrer „Wars & Dances“ platzierte die Berliner Choreographin Eszter Salamon ins SANAA-Gebäude in Essen, an den Rand der Zeche Zollverein. Die Ränder dieser sechsstündigen Performance waren halb sichtbarer Natur; dafür ist die Künstlerin Spezialistin

Die kommen von nirgendwo. Sind immer schon da. Die Tänze, die Kriege. Die Tänzer.
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Es gibt irgendwo in der Mitte dieser sehr langen sechs Stunden, die „Wars & Dances“ dauern, eine Art wunderliche Vermehrung der Tanzenden. Plötzlich füllen sie mit ununterbrochener Bewegung den ganzen riesigen Raum. Sie traben. Die Hände legen sie hinten ans Kreuz, so dass die Ellbogen herausstehen und beim Trab mitwippen, wie der Kopf auch. Wie Vögel, nur dass man nicht weiß, von welcher Art. Manche traben auf der Stelle, andere langsam oder ausgreifender vorwärts, manche rückwärts. Aus diesem Insichgekehrtsein erheben sie sich zuweilen, lassen die Arme steigen, als wollten sie Regen fangen oder eine höhere Macht anrufen oder einfach mal groß werden. Oder sie rotieren  rasch die Arme, ein Schnitt in der Optik. Aber sie traben weiter und überall hin. Jeder für sich, doch dieses Hibbeln oder Vibrieren scheint sie zu vereinen wie ein Aggregatzustand. Fast wirkt es, als blubbere der ganze Raum, wenn sie so umeinander strömen, ohne je anzustoßen. Es könnte eine Idee von Freiheit oder Unendlichkeit sein, wären da nicht die vier Wände, Beton, Glasfenster, Boden, Decke. Das ist der Rahmen, die Begrenzung, das Gefängnis oder das Museum.

Tatsächlich ist dieses 2006 errichtete Haus bislang wenig belebt, wie eine innen hohle interessante Skulptur: das Sanaa-Gebäude, das im nördlichen Essen, in Katernberg, auf einer Wiese steht und besonders schön ist, wenn seine scheinbar unregelmäßig angeordneten großen Fenster die Abenddämmerung spiegeln. Steht man drinnen, spiegeln sie einander: schwebende Quadrate. Hier residiert demnächst die Design-Abteilung der Folkwang-Universität. Die erste Etage, noch unmöbliert, konnte nun die Premiere der „Wars & Dances“ beherbergen, eine Koproduktion von Eszter Salamon mit PACT Zollverein, das sich nun ein paar Schritte hinter diesem Gebäude befindet, wo die Choreographin seit Jahren regelmäßig mit ihren Stücken gastiert. Warum also mussten  diese neuen „Kriege und Tänze“ Auslauf bekommen? Warum runter von der Bühne, auf einen  hellgrauen Velourboden, wo sie sich, die Tänze, vor, neben, hinter, zwischen den lose verteilten, stehenden oder am Boden hockenden Zuschauern behaupten müssen? Man ahnt, dass es genau darum geht: sich zu behaupten. Welchen Raum hat so ein Tanz, nimmt er sich oder bekommt er zugewiesen?


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Mach Platz!

Die Choreographie spielt alle Distanzen durch, mal klemmt ein Tänzer schief in einer abseitigen Ecke, mal verständigen sich zwei auf synchrones Knie- und Armerucken über zwanzig Meter hinweg, zwei tanzen nebeneinander, oder einer dreht in einer großen leeren Mitte lange um die eigene Achse, mehrere klumpen sich zur Gruppe, ein anderer drängelt sich an Zuschauer. Das ist übergriffig, aber wird nie als Mitmachanimation benutzt. Das Interessante an der Aufführung ist das, was NICHT passiert. Der Raum, den der Tanz behauptet, ist eigentlich Nirgendwo. Deshalb muss er auch so lange dauern: damit er über unsere Aufmerksamkeitsgewohnheiten hinausufert und etwas entsteht, das kein Zuschauen mehr ist, sondern Dabeisein. Fast wie bei einem Ritual, ohne dass es sich als solches aufdrängt. Was genau die zehn Tänzerinnen und Tänzer tun, kann einen auch kühl lassen: Es ist einerseits zwingend, intensiv, ganzkörperlich, andererseits falsch. Beliebig. Ziellos, leer. Trägt Eszter Salamon den Tanz zu Grabe, oder ist er längst ein Zombie? Und gegen wen zieht der in den Krieg?

Oder für wen?

Diese Leere oder Entwurzelung wird betont durch die Stille. In museumshafter Andacht betrachten die Besucher die mal hier, mal dort tanzenden jungen Menschen in engen Hosen und einfarbigen T-Shirts, barfuß oder in Turnschuhen, die einem jeweils eigenen Rhythmus folgen, oft einem Beben, das in ihrem Innern zu pulsieren scheint, im Bauch, in den Knien, den Fersen, den Schultern, dem Kopf, den Händen. Das ist eine Art Musik, die man mitfühlen kann, die stark ist, stark sein will und an Lärm erinnert, ihn aber bewusst ausblendet. Nur gepresstes Ausatmen oder Seufzen ist manchmal zu hören, auch mal halbimprovisierter Gesang mit langen Vokalen, Melismen oder ein Tirilieren, mal gesungenes Stampfen, „rmm tuff tuff, rmm tuff tuff“. Die einzigen verständlichen Worte in dieser Performance, die ansonsten betont nichts erklärt, sind einige Kurzansagen mit Namen der jeweiligen Tänzer, „her dance was transformed from“ und einem unverständlichen Ausdruck. Also nichts Kopiertes, Geerbtes, Gekauftes, Gelerntes oder Selbstgemachtes, sondern „Transformiertes“. Das ist im Grunde jeder Tanz, den ein Tänzer tanzt.

Das Ausgangsmaterial sind in diesem Fall sogenannte Stammes- oder Volkstänze (oder etwas, das sich dafür ausgibt), die Eszter Salamon aus einer Videoplattform im Internet gepickt hat. Wer immer sie aus welchen Gründen in dieses ultrafragmentierte Schaufenster eingestellt hat, das ständig Nähe und Verfügbarkeit suggeriert. Diese Verrückung „transformiert“ die Langzeitperformance. Eben indem sie nach dem Behaupten fragt.

Tänzer Sydney Barnes zerrt mit verkrampften Händen an seinem Bauch, verzieht sein Gesicht, geht schief, fällt, geht, fällt, steht, wippt plötzlich in einem regelmäßigen Takt. Eine Tänzerin – Liza Baliasnaja, Stunden später Cherish Menzo – ruckt mit ihren Fäusten, Armen, dem ganzen Körper auf stabil gebeugten Beinen, als sei sie ein Schlagzeug oder umgekehrt: wie angetrieben von einem unermüdlichen Beat. Allmählich sinkt sie dabei auf die Knie, schwenkt ihren Kopf hin und her und auf und ab, so dass die langen Haare peitschen und sie nichts mehr sieht, bis sie mit den Haarspitzen schnelle Achten auf den Boden zeichnet, noch mehr in sich versinkt, gekrümmt, fast reglos wird. Und dann einfach aufsteht, woandershin geht und einen leeren Platz hinterlässt.


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Er bleibt nicht lange leer. In dem Vorgängerstück „Monument 0: Haunted by Wars (1913-2013)“, das Eszter Salamon im September 2014 auf der Bühne von PACT Zollverein im Rahmen der Ruhrtriennale uraufgeführt hatte, füllte sich der Platz mit einer dramaturgisch wohlgeordneten Reihe von Kriegs- und Anmach-Tänzen in schwarzweißer Optik; am Ende eroberten dutzende Schilder mit Angaben von Kriegsjahren den düsteren Raum, eine allzu offensichtliche Mahnung an die Wirkungslosigkeit magischer oder körperlicher Praktiken beim Verhindern von organisiertem Morden. Vielleicht sprachen sie auch davon, wie besessen die Menschheit allüberall von Kriegen war und ist, eben auch vom Kriegführen. Diesmal stecken die „wars“ nur im Titel, und die Frage von Macht und Ohnmacht, Führen und Folgen wird in den Tänzen selber durchgespielt sowie ihrem Kontakt und Nicht-Kontakt mit Publikum und Raum. Insofern sind die „Wars & Dances“ zwingender, doch auch rätselhafter, schwieriger in ihrer scheinbaren Einfachheit und Losgelöstheit. Das ist große Kunst.

Jene Vervielfachung der Tänzer übrigens war einer Gruppe eingeweihter Tanzstudenten der Folkwang Universität zu verdanken. Sie ergab einen fast humorvollen Effekt: Was wäre, wenn es viele werden? Aber die Zeit vergeht. Vorgestern wurden im pakistanischen Sehwan Tänzer und Tänzerinnen ermordet, Anhänger des Sufismus, die beim „dhamaal“ ihre Köpfe auf und ab werfen, sich schütteln, um sich kreisen, in Trance tauchen, um zum Frieden zu gelangen.

(Hinweis zur Autorin: Sie hat einen Lehrauftrag am Institut für Zeitgenössischen Tanz der Folkwang Universität der Künste und ist mit den an der Aufführung beteiligten Studierenden bekannt)