schrit_tmacher festival 2024 nun auch in Belgien eröffnet
Ball, Ring und Keule
Man mag von Jonglage halten, was man will: In Sean Gandinis „LIFE. A Love Letter to Merce Cunningham“ öffnet sie uns, fast spielerisch, den Blick auf eine der schillerndsten Ausnahmegestalten des zeitgenössischen Tanzes.
Von Harff-Peter Schönherr
Liebesbriefe bekommt jeder gern. Aber was, wenn die Zustellung auf Probleme stößt? Bei „LIFE“, Sean Gandinis „Love Letter to Merce Cunningham“, ist das der Fall, zumindest auf den ersten Blick: Cunningham, der große Experimentator, ist nicht mehr unter uns. Allerdings: Wer Gandinis Hommage an den US-amerikanischen Ausnahme-Tänzer und -Choreografen erlebt, auch sie ein Experiment, ahnt: Dieser Brief richtet sich, und das gar nicht nur ersatzweise, an uns alle.
Wir wissen nicht, was Cunningham dächte, bekäme er Gandinis Liebeserklärung zu Gesicht. Die britische Tageszeitung „The Guardian“ ist sich zwar sicher, dass er „would have loved this little gem of a show”. Aber mehr als Annahmen sind das natürlich nicht.
An diesem Abend im belgischen Eupen passt vieles zusammen. Er findet im Alten Schlachthof statt, keinem genuinen Kulturort: Auch Cunningham gefiel es, seinen Tanz an ungewöhnlichen Orten zu zeigen. Zudem verbindet er Tanz mit Jonglage: Cunningham hat sich ähnliche spartensprengende, avantgardistische Freiheiten genommen.
In Eupens gründerzeitlichem „Altem Schlachthof“, erbaut zwischen 1901 und 1903, sind bis 1991 Tiere gestorben – und mit ihnen, vielleicht, ein wenig die Seelen derer, die hier die brutalen Gerätschaften benutzt haben, die am Eingang in einer Vitrine auf uns warten: Gewaltige Fleischerbeile, elektrische Viehtreiber, Tötungspatronen Kaliber 9 mm, für „schwere Schweine, Kühe, leichte Ochsen“.
Auch heute geht es hier zuweilen um Leben und Tod, gedanklich, um unseren Umgang mit unseren Mit-Lebewesen. „LIFE“ ist ein Versuch, sich hier einzureihen. Zumindest schwingt das im Titel mit, der suggeriert, dass der Tod nicht nur ein Ende ist. Und das stimmt ja auch, gewisserweise. Denn Cunningham lebt weiter, auch in Gandini, der für den „spannenden Dialog“ zwischen Jonglage und Tanz, den „schrit_tmacher“ uns verspricht, auf Choreografien und Techniken von Cunningham zurückreift.
Was wäre, formuliert „schrit_tmacher“ die Frage des Abends, wenn Cunningham Jonglage choreografiert hätte? Beantworten lässt sich das natürlich nicht. Ebenso wenig wie es sich beantworten lässt, was wäre, wenn Cunningham Schwertschlucken choreografiert hätte. Oder, sagen wir: Hochtrapez. Man weiß es eben nicht.
Aber das ist vielleicht auch gar nicht nötig. 60 Minuten dauert Gandinis Annäherung an Cunningham. Und am Ende lässt sich sagen: Ja, Jonglage und Tanz, Werfen und Fangen zu Cunninghams Bewegungsmustern, funktionieren. Und dass am Ende ein leerer Stuhl auf der Bühne steht, ist anrührend: Hier fehlt jemand, heißt das. Und gleichzeitig: Hier fehlt jemand nicht.
Der Abend macht keine Anstalten, ein Lehrstück zu sein. Vor allem macht er eins: Spaß. Das liegt besonders an Gandini selbst. Wie er vor Beginn die Basics das Jonglierens erklärt, und damit zugleich die Basics der Cunningham-Technik, ist witzig und fesselt. „We love drops!“, schmunzelt er dabei. Und, ja, auch bei den Weltklasse-Jongleuren, die „Gandini Juggling“ versammelt, kommen sie vor. Auch an diesem Abend.
Wir erfahren, was Formen wie „Fontäne“ und „Säule“ ausmacht, welche Rhythmik dem Jonglieren innewohnt. Spätestens hier wird klar: Schwertschlucken und Hochtrapez sind kein guter Vergleich. Denn was Gandinis Werfer und Fänger perfektionieren, ist Taktung. Dasselbe tut der Tanz.
Und dann geht es los: Bälle, Ringe und Keulen kommen zum Einsatz. Erst wenige, dann mehr. Oft in Soli und oft im Passing, zwischen vielen Akteuren, mit Zuwurf und Positionswechsel, und das ist dann immer ein kleines Wunder an Koordination.
Sicher, der Jonglage-Part zieht viel Aufmerksamkeit auf sich. Farbig ist er, schnell, spektakulär, glitzrig. Bälle ruhen auf Ellenbögen, rollen wie magisch von Fuß zu Fuß, Ringe umschließen Hälse und Beine, Keulen zeichnen Körperkonturen nach, Hände pflücken traumhaft sicher Fliegendes, Wirbelndes, Schwebendes aus der Luft.
Aber die Ebene des Tanzes steht nicht zurück: Gandinis Jongleure sind zugleich gute Tänzer. Sprünge sind zu sehen, Hebefiguren, Pirouetten, Fußpositionen, akzentuiert, verdeutlicht, verstärkt durch Gegenstände in der Luft. Eine Doppelschichtigkeit, die zu konstruieren Mut erfordert haben muss.
Liebesbriefe bekommt jeder gern. Aber was, wenn sie nur schwer zu verstehen sind? Hier zeigt sich bei „LIFE“ ein Risiko: Die Ebene der Jonglage erschließt sich jedem sofort, die Cunningham-Ebene nur dem, der exzellentes Hintergrundwissen mitbringt, am besten eigene Tanzerfahrung. Sicher, Gandini erklärt exemplarisch, wie seine Synergierung arbeitet, worin die Ebenen sich begegnen, sich decken. Aber für alle Uneingeweihten wirft der Rest des Abends dennoch Rätsel auf. Das Gute daran: Rätsel zu lösen macht Spaß. Zumindest ebenso viel wie Bällen, Ringen und Keulen beim Wirbeln zuzusehen.
Gandini scheut in „LIFE“ keine Verstörungen. Bälle prasseln wie Geschosse gegen Wände. Keulen fliegen in die Ecke, werden auf den Boden gedroschen, bringen Gitter zum Vibrieren, gleichen im Pas de deux Stierkampf-Banderillas. Wenn es um linke und rechte Wurf- und Fanghände geht, zieht Gandini auch schon mal eine Parallele zu den Fronten der Politik. Und dann ist da dieser Moment, in dem einer der Darsteller dramatisch reglos dasteht, endlos lange, wie abwartend, wie vorbereitend, und am Ende, statt etwas besonders Verblüffendes zu tun, einfach sagt: „I’m done!“ Und zwinkert. Und geht. Herrlich.
Ein Augen öffnender, entspannender Abend. Ein Abend, den Kinder ebenso genießen können wie Erwachsene. Am Ende bedankt sich Gandini beim Publikum dafür, dass es da ist. Dass es seine Liebeserklärung hat sehen wollen, obwohl „gerade wirklich viele gute Netflix-Serien laufen“. Das ist nicht nur ein Spruch. Es freut ihn wirklich.
Beim Rausgehen steht da dann wieder diese Vitrine, links von der Tür. Eine Broschüre ist dort ausgestellt: „Das Ganze der Brühwurst-Fabrikation“. Heftig. Weit besser, Ball, Ring und Keule kreisen zu lassen. Oder, wie Cunningham, auf die Frage, wie es ihm gelungen sei, sich immer wieder neu zu erschaffen, die Antwort zu finden: „Sollten wir das nicht alle tun?“