Schrittmacher Festival: Uraufführung von „And Everything in Between“ von Stephen Shropshire im Theater Heerlen

Leben, das schwitzt und schnauft

Von Nicole Strecker

Wird der Kosmos dieses Giganten je ausgelotet sein, wird je alles gesagt sein zu Johann Sebastian Bach, seiner Musik oder auch nur seinem musikwissenschaftlichen Meisterstück „Die Kunst der Fuge“? Schon 1802 erklärte der Bach-Biograf Johann Nicolaus Forkel, dass das kompositorische Wunderwerk „für diese Welt zu hoch“ sei. Sie ist komplexe Musikarchitektonik und sperriges Mathematikrätsel. Und doch wächst mit jeder Fuge über das schlichte musikalische Ausgangs-Thema auch die emotionale Spannung, reißen seelische Abgründe auf.

And-everything-in-between_Stephen-Shroshire©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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„Kommunikation als Beziehung“

Beide Ebenen, das Formale wie das Psychologische und ihr mysteriöses Ineinander sind schon lange ein Thrill für europäische Choreografen, allen voran natürlich die unübertroffene Anne Teresa De Keersmaeker. Und auch Choreograf Stephen Shropshire scheint nun dieser Aspekt sehr interessiert zu haben für „And Everything in Between“. Ein Abend in vielen kleinen Abschnitten, die der eher vagen Themen-Idee „Formen des Dialogs“ folgen. Es gehe um „Kommunikation als Beziehung“, sagt Shropshire, der selbst in seinem Stück als eine Art Moderator auftritt und in die einzelnen Tanz-Abschnitte einführt mit Tendenz zum Verschwurbelten. Es gehe also um die Beziehungen zwischen Tanz und Musik, zwischen Tänzerin und Tänzer, zwischen Tänzer:innen und Publikum etc. und dem, was dazwischen passiert. Was dieses „Dazwischen“ sein könnte, weiß man nach dem Abend auch nicht. Aber so beliebig die Klammer dieses Abends ist – so gelungen sind doch einige der Einzelteile.

And-everything-in-between_Stephen-Shroshire©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Nuancen des Gefühls

Teil eins: Eine Exposition in Stille. Eine Tänzerin und ein Tänzer setzen sich weit entfernt voneinander auf den Boden, die Beine ausgestreckt. Sie in Weiß, er in Schwarz – wie Klaviertasten, aber auch wie Yin und Yang mit vertauschten Geschlechterrollen. Sie (das weiße, ‚männliche‘ Prinzip) schlägt gewissermaßen den ersten Ton an: Sie blickt zu ihm, rutscht näher, blickt weg, wie um ihm Raum zu lassen, ihren „Move“ ungestört zu bedenken. Er greift ihre Bewegung auf, wiederholt und variiert sie zugleich. Eine präzise Choreografie der Blicke, der minimalen Gesten – und eben darin liegt die Stärke des in den USA geborenen, in den Niederlanden arbeitenden Choreografen.

Sehr genau spürt Stephen Shropshire den emotionalen Qualitäten kleinster Bewegungen nach. Da verweigert sich einer dem Trend zum Überwältigungstanz, den so populären Wutchoreografien und mitreissenden Ekstasen des zeitgenössischen Tanzes. Shropshire lotet vielmehr in den Nuancen der Bewegungen das Spektrum menschlichen Fühlens aus. Mit hochempfindsamen Körpern und weicher Nachgiebigkeit, aber auch immer noch einem großen Vertrauen in die emotionale Kraft der klassischen Technik. Wie „zeitgenössisch“ die klassische Technik sein kann, lautet denn auch eine der interessanteren Fragen dieses Abends.

And-everything-in-between_Stephen-Shroshire©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Duo mit virtuellem Ego

Shropshires Mischung aus Dezenz und Virtuosität, Formtreue und doch auch Theatralik braucht spezielle Tänzer:innen – wie Christine Ceconello. Erklingt Bachs berühmtes Fugen-Thema, steht sie allein auf der Bühne, sieht sich aber ihrem digitalen Klon gegenüber: Einer Aufnahme ihres Tanzes, der auf eine große Leinwand projiziert ist. Die ‚echte‘ Ceconello schaut sich also selbst zu und antwortet auf die Bewegungen ihrer Projektion mit tänzerischer Kontrapunktik: Sie verlagert ihr Körpergewicht gegenläufig zu ihrem virtuellen Ich. Sie spiegelt es, beschleunigt, verlangsamt oder splittet die Bewegungen. Dabei produziert ihr realer Körper immerzu Geräusche: Drehungen mit quietschenden Füßen, bumpernde Sprünge, Atem, der zunehmend heftig wird. Da also ein Körper, der kämpft, sich in die Erschöpfung tanzt. Auf dem Big-Screen einer, den nichts in seiner sterilen Perfektion erschüttern kann. Da anrührendes Leben, das schwitzt und schnauft. Dort pure Schönheit. Da Gegenwärtigkeit, dort Ewigkeit? Wie wird es sein, wenn Christine Ceconello dieses Duo in, sagen wir, 15 Jahren noch einmal aufführt? Wie schrecklich muss es sein, der eigenen Vergänglichkeit ins Gesicht zu sehen?

And-everything-in-between_Stephen-Shroshire©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Yin und Yang bei der Arbeit

Eigentlich hätte dieses eigentümliche Pas de Deux zwischen einem realen und einem virtuellen Körper schon genug Stoff zum Grübeln gegeben. Doch es folgen noch zwei weitere Duos, diesmal in der konventionelleren Mann-Frau-Konstellation mit dem Tänzer Ivan Montis. Technisch sind Ceconello und Montis ein Dream-Team. Jeder Griff sitzt und Montis ist ganz der Top-Partner, der komplett auf seine kapriziöse Ballerina fixiert ist. Aber erotisch? Nun ja, nicht gerade Hans-van-Manen-Sexappeal. Es wirkt eher, als müssten sich die zwei Super-Powers Yin und Yang an dem üppigen choreografischen Material abarbeiten, das Shropshire ihnen auflädt. So verflüchtigt sich die Spannung im Tanz. Genauso wie Bachs grandioses Fugen-Universum, das nicht mehr im Original erklingt, sondern in der Elektro-Adaption von Komponist Xavier van Wersch allmählich verhallt. Aber eine Welt ohne Bach? Undenkbar. Sein Kosmos bleibt ein ewiges Wunder – und sicher auch das: ewige Inspirationsquelle unserer Choreograf:innen.

And-everything-in-between_Stephen-Shroshire©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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PS:

Apropos Dialoge sind „Beziehung“. Oder eben: Beziehungskiller. Etwa wenn man, wie gestern Abend geschehen, eine ausschließlich niederländisch fragende Journalistin zum After-Show-Talk mit dem englisch-sprechenden Shropshire lädt. Für das deutschsprachige Publikum, das nun mal auch zu Schrittmacher gehört, definitiv ein Fall für: misslingende Kommunikation.