Die Festival Specials des schrit_tmacher justDANCE! 2023 in Aachen

Tanzartiges im Morgen, im Museum und in der Musik

Das erste Wochenende der diesjährigen 28. Ausgabe von schrit_tmacher justDANCE! 2023 bot unter dem Titel „Festival Specials“ Exklusives: Das performative Erlebnis „Double Helix“ von Nanine Linning in der Fabrik Stahlbau Strang, die Deutschlandpremiere von Trajal Harrells Solotanzstück „Sister or He Buried the Body“ im Ludwig Forum sowie das Konzert „Danse – Dance – Dans – Danza – Tanz!“ in der Hochschule für Musik und Tanz

von Natalie Broschat

„Double Helix“ der Dance Company Nanine Linning in der Fabrik Stahlbau Strang

Bereits 2019 kam „Double Helix“ in Offenburg zur Premiere. Corona ließ es wie so viele andere Arbeiten zum Erliegen kommen, weswegen es umso erfreulicher ist, dass die Performance nun wieder auf Tour gehen kann. In der kühlen und düsteren Fabrik Stahlbau Strang im Nordosten von Aachen sind vier Räume durch riesige Moltonstoffwände konstruiert, darin befinden sich jeweils zwei bis fünf Installationen, die allesamt „die Auswirkungen biotechnologischer Entwicklungen in unserer Gesellschaft und in unserem Körper“ aufzeigen. Sofort eröffnen sich Assoziationen an Körper-Horror, Filme von David Cronenberg, „The Last of Us“, Mutationen, Deformationen und Science-Fiction im Allgemeinen. Ein Blick in unsere bessere, weil optimierte Zukunft also?

Das Publikum wird in kleinen Gruppen durch die dunklen Räume geführt, die grob an eine tiefe Unterwasserwelt erinnern, eben weil man auch mit Lichtern in den nächsten Raum geködert wird. Am Anfang nun ist die Geburt, weswegen man zuerst eine riesige Vagina erblickt, mit doppelt-lebendiger Klitoris. Gegenüber ein trübes Wasserbecken, darin eine nackte Frau. Im nächsten Raum liegt eine Tänzerin in einem Meer aus Muscheln und immer wieder bewegt sich an bestimmten Stellen eine dieser kleinen Kreaturen. Es ist ein wirklich herausragendes Kostümbild, das der niederländische Künstler Bart Hess für „Double Helix“ entworfen hat. Zudem zeichnet er gemeinsam mit Nanine Linning für das gesamte Konzept sowie die Objekte und Skulpturen verantwortlich.

DOUBLE-HELIX_Nanine-Linning©TANZweb.org_Klaus-Dilger.

DOUBLE-HELIX_Nanine-Linning©TANZweb.org_Klaus-Dilger.

Zum Konzept gehört, dass an den jeweiligen Aufführungsorten zu den fünf Tänzern und Tänzerinnen der Dance Company Nanine Linning bis zu zwölf Gasttänzerinnen und -tänzer engagiert werden. Sie fügen sich ein in dieses Gesamtkunstwerk, das das Publikum ob des bildgewaltig-installativen Charakters ins Staunen bringt, es aber gleichzeitig mit dem eigenen Voyeurismus konfrontiert. Und der ist immer dann stark zu spüren, wenn man eingezwängte oder liegende Frauenkörper betrachtet. Männer haben in „Double Helix“ eh einen größeren Bewegungsspielraum, wie beispielsweise im letzten Raum, wo zwei Tänzer mit über den Körper verteilten, gläsernen Auswüchsen auf einem abgesteckten Bereich ein Duett tanzen.

Dass sie mehr Platz zum Bewegen haben ist sozusagen seit jeher in ihren Genen, in ihrer DNA, verankert. Die Struktur der Desoxyribonukleinsäure, die Doppelhelix („Double Helix“), hat Mitte des 20. Jahrhunderts eine Frau namens Rosalind Franklin entdeckt. Die beiden Wissenschaftler James Watson und Francis Crick, die Franklins Ergebnisse als Grundlage für weitere Forschungen hernahmen, heimsten nicht nur die Aufmerksamkeit für die bahnbrechende Entschlüsselung der DNA ein, sondern erhielten 1962 zudem den Nobelpreis. Erst Jahre später gestand Watson in seinem Buch „The Double Helix“ ein, von Rosalind Franklins Arbeit profitiert zu haben, kommentiert jedoch hauptsächlich ihr Aussehen.

Biotechnologie, jeglicher Fortschritt und Optimierungswahn hin oder her: Wird es überhaupt jemals Gleichberechtigung geben? Wie sinnvoll sind mutierte und optimierte Körper, wenn das Geschlecht bestimmendes und entscheidendes Merkmal in dieser unserer Gesellschaft bleiben wird?

DOUBLE-HELIX_Nanine-Linning©TANZweb.org_Klaus-Dilger

DOUBLE-HELIX_Nanine-Linning©TANZweb.org_Klaus-Dilger

TRajal-Harrell_Sister-or-He-Buried-The-Body©TANZweb.org_Klaus-Dilger

TRajal-Harrell_Sister-or-He-Buried-The-Body©TANZweb.org_Klaus-Dilger

„Sister or He Buried the Body“ von Trajal Harrell im Ludwig Forum Aachen

Es ist eine intime Soloperformance, ein emotionales Tanzstück, das im offenen Raum des Ludwig Forum für Internationale Kunst seine Deutschlandpremiere feiert. Bereits 2021 wurde die Arbeit von der 13. Gwangju Biennale in Auftrag gegeben und konnte coronabedingt erst 2022 uraufgeführt werden.

Der US-amerikanische Tänzer und Choreograf Trajal Harrell setzt in „Sister or He Buried the Body“ den japanischen Butoh in den Fokus. Im großen Tanzlexikon von Annette Hartmann und Monika Woitas lautet die Definition wie folgt: „Butoh ist ein expressiver Tanz, der 1958 von den japanischen Künstlern Tatsumi Hijikata (1928-1986), Ōno Kazuo (1906-2010) und Mitsutaka Ishii (1939-2017) ins Leben gerufen wurde. Erste Impulse gehen auf den deutschen Ausdruckstanz der 1920er Jahre zurück. Es sollten entgegen der gängigen Ideale bewusst plumpe und unvollkommene Bewegungen ausgeführt werden, um bis dahin nicht genutzte Möglichkeiten des Tanzkörpers mit Phantasie und Freiheit zu erforschen. Butoh ist Ausdruck der Seele und bedient sich verdrängter Bewusstseinszustände.“

Seit 2013 beschäftigt sich Trajal Harrell intensiv mit dieser Tanzform, beispielsweise in „Used, Abused, and Hung Out to Dry“ für das MoMA in New York ; und irgendwann stoße man auf die Geschichte der Schwester von Tatsumi Hijikata, wie er selbst erzählt. Der Legende nach lebte sie als Prostituierte und starb einen frühen Tod. Hijikata sprach wohl oft davon, dass seine Schwester nun in seinem Körper weiterlebte, in ihm tanzte und ihr Körper somit in seinem archiviert wurde. Dieser Mythos ist Gegenstand der bemerkenswerten, halbstündigen Soloperfomance, die hauptsächlich im Sitzen mit Handtanz und sechs tief ins Herz gehenden Musikstücken (u.a. „Jezebel“ von Sade und „Why Don’t You Do Right“ von Lil Green) eine Form findet. Hijikatas Schwester hat als Prostituierte ihren Körper gegen Geld verkauft; Tatsumi Hijikata wiederum hat anscheinend Geld dafür verlangt, die eigene Schwester zu verkörpern; und Harrell wiederum verkörpert nun diese beiden Sphären durch unmissverständliche Gesten, wie das Ausstrecken der offenen Handfläche (Geld). Harrell denkt außerdem die afro-amerikanische Tänzerin-Choreografin Katherine Dunham (1909-2006) mit, die als Pionierin des modernen Tanzes gilt. Trajal Harrell widmete ihr die Performance „Deathbed“, die 2022 in der Kunsthalle Zürich zur Uraufführung kam. Jedenfalls, 1957 performte Katherine Dunham mit ihrer Dance Company in Tokyo; ihr Voodoo-Tanz und der Umgang mit der weiblichen Sexualität beeinflusste Hijikata ungemein und er soll daraufhin angefangen haben schwarzes Make-Up beim Butoh-Tanz zu tragen – es herrschte eine gängige Exotik-Faszination im damaligen Japan. Trajal Harrell gibt nun allen Dreien – Tatsumi Hijikata, dessen Schwester und Katherine Dunham – (s)einen Körper und lässt sie sozusagen im Hier und Jetzt wieder oder überhaupt in Dialog miteinander treten und somit auch eine aktuelle, zeitgenössische Tanzgeschichte schreiben.

Archive konservieren und ordnen die Mythen und die Geschichte des Butoh und machen sie gleichzeitig für Interessierte zugänglich. Insofern ist Trajal Harrells tänzerische Auseinandersetzung mit dieser Tanzform beinahe wie eine Zeitkapsel zu verstehen und im musealen Raum dahingehend perfekt verortet, ja beinahe tanzgeschichtlich kuratiert.

Eva Birkenstock, die seit Oktober 2021 die Direktion des Ludwig Forum Aachen innehat, freut sich überaus, mit dem Festival schrit_tmacher zu kooperieren und brachte direkt die Deutschlandpremiere der Koproduktion „Sister or He Buried the Body“ mit ins Spiel. Vor ziemlich genau 30 Jahren hat Rick Takvorian, der damals die Veranstaltungen im Ludwig Forum Aachen managte, im dortigen Keller das Festival gegründet. Über die Jahre wurde das Festival immer größer, die Kooperation und Verbindung zum Ludwig Forum jedoch immer kleiner, bis sie ganz verschwand. Deswegen ist es umso erfreulicher, dass sie nun wieder belebt wird und gleich mit einem solch eminenten Tanzstück ihren Auftakt findet und feiert.

TRajal-Harrell_Sister-or-He-Buried-The-Body©TANZweb.org_Klaus-Dilger

TRajal-Harrell_Sister-or-He-Buried-The-Body©TANZweb.org_Klaus-Dilger

„Danse – Dance – Dans – Danza – Tanz!“ in der HfMT Aachen

Eine weitere Kooperation, die seit stolzen 15 Jahren geplant war, fand ebenfalls und endlich ihren Start: Das schrit_tmacher justDANCE! und die Hochschule für Musik und Tanz Aachen gehen nun gemeinsame Wege. Zu Beginn dieser Zusammenarbeit präsentierten am Freitag im Konzertsaal der Hochschule die Studierenden der verschiedenen Instrumentalklassen 15 Musikstücke, die allesamt einen tänzerischen Kern haben oder zum Tanz einladen. Vom 2. Satz des „Concierto de Aranjuez“ für Klavier und Gitarre des spanischen Komponisten Joaquín Rodrigo über Johann Sebastian Bachs Cellosuite „BWV 1010“ bis hin zu Jacques Offenbachs „Can Can“ – interpretiert von einem Bläserquartett – war unglaublich viel Abwechslung geboten. Zwischen den vornehmlich klassischen Stücken spielte der Studierende Sehun Lim immer wieder kurze Lieder des venezuelischen Komponisten und Gitarristen Antonio Lauro. Beeindruckend war, wie viele Musikstücke auswendig dargeboten wurden und den durchdringenden Applaus haben die Studierenden mehr als verdient. Das tatsächlich Tänzerische an diesem Abend waren die Hände und Finger der Studierenden, die sich filigran, gefühlvoll und beinahe hypnotisierend über die Instrumente bewegten.

Danse_Dance_Dans_03.03.23_Hochschule-fuer-Musik-und-Tanz_Klavier

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