FLEISCHERHAKEN AN KETTEN… Angst ist ein starkes Gefühl _ MM CONTEMPORARY DANCE COMPANY aus Italien eröffnet mit zwei neuen Stücken das letzte Wochenende des schrit_tmacher Festivals in Aachen

Eine Nachtkritik von Lisa Reinheimer – übersetzt  aus dem Niederländischen von Klaus Dilger

HIER GEHT ES ZU DEN VIDEOIMPRESSIONEN

Das schrit_tmacher Festival öffnet am letzten Wochenende mit zwei aktuellen Choreographien auf die großen Ballettkompositionen „Le Sacre du Printemps“ von Stravinksy und „Bolero“ von Ravel. Dieses duale Programm erhält zusätzliche Tiefe durch den Veranstaltungsort, die Fabrik Stahlbau Strang.

Die italienische MM Contemporary Dance Company begnügt sich nicht damit die Klassiker nachzustellen, sie zieht Parallelen zwischen den sozialen Themen der Kompositionen und unserer heutigen Zeit.

Über der Mitte der Bühne hängt eine Reihe von Fleischerhaken an Ketten herab. Im immer nur wenige Sekunden aufleuchtenden Lichtschein, wird von links Hinten das nackte Frühlingsopfer diagonal über die Bühne gezogen. Bei jedem Aufleuchten fügen sich mehr Menschen zum Bühnengeschehen hinzu, bis sie einen Kreis bilden, bereit zu kämpfen oder zu fliehen. In ihren roten Hosen und Kleidern, mit blank liegenden Muskeln, sehen sie aus, als wären sie schon gethäutet. Mit kurzen, stampfenden Bewegungen und drohenden Blicken bewegt sich die Gruppe nach Vorn, wechselt plötzlich den Ausdruck, von drohend zu verspielt, hüpfen und springen sie wie unschuldige Lämmer und Kühe, die nach dem Winter zum ersten Mal wieder auf die Weide kommen, doch diese Unschuld ist bald vorbei. Auch die heranwachsenden jungen Frauen sind nicht frei von Makel. Es entwickeln sich ständig verändernde Kräfteverhältnisse zwischen den Tänzern. Menschen werden von der Gruppe ausgeschlossen, Frauen werden von gierigen Händen angegrapscht, wie Raubtiere belauern sie einander. Wer macht eine Finte, wer verhält sich anders als die Gruppe?

 

©Photo Klaus Dilger

Über Ihnen hängen die Fleischerhaken wie ein Damoklesschwert der Vergänglichkeit.

Sacre du Printemps war vor 100-Jahren noch ein großer Skandal, der ausgelöst wurde durch die wild Tanzenden und Stampfenden in der Choreografie von Nijinksy und die vielen Veränderungen in den Sehgewohnheiten, die zu einer wahren Hysterie geführt hatten. Die Angst um die Welt, die in diesem Ballett reflektiert wird, ist keine Sache der Vergangenheit. Choreograph Enrico Morelli hält die Metapher, das Ritual, das Frühlingsopfer, aufrecht. Mit viel Respekt (vielleicht zu viel) für die alte Musikkomposition und das Ballett, gelingt es ihm doch, eine moderne eigenständige Fassung zu präsentieren.

 

©Photo Klaus Dilger

Ein schöner Kontrast dazu ist der Bolero des Choreographen und künstlerischen Leiters Michele Merola. Nach der spürbar gewordenen Angst in „The Rite of Spring“ hat der Bolero beinahe eine heilende Wirkung. Denn glücklicher Weise sind hier die Menschen noch in der Lage Kontakt aufzunehmen, und sei es auch nur in der Sicherheit der Dunkelheit. Nach den stampfenden und manchmal fast banal gezeichneten Wesen, sehen wir nun geschmeidige und individuelle Menschen.

In einer dezenten und intimen Eröffnungsszene, zu den sich wiederholenden Eröffnungsklängen von Ravels Bolero, auf dem Klavier gespielt, stehen zwei Männer hintereinander. Hinter Ihnen steht eine gefaltete Papierwand. Das Licht fällt in Streifen quer über Ihre Oberkörper, als befänden sie sich in einer kleinen Gefängniszelle. Die Männer kommen zusammen und verschmelzen. Zart, weich und anpassungsfähig. Die Männer spiegeln sich in ihren Bewegungen, fließen zusammen und werden wieder Zwei. Der Vorderste faltet seine Arme um die Schultern des dahinter Stehenden. Dieser umschlingt dessen Armbeugen, legt die Hände auf dessen Wangen und hebt ihn hoch. Als die Wand sich bewegt, verschwinden die Männer in den Falten der Wand.

 

©Photo Klaus Dilger

Die Wand bewegt sich und atmet zusammen mit dem Stück. Immer wieder erscheinen und verschwinden die Tänzer wieder, so als würden wir durch ein riesiges Haus wandern und hinter jeder Tür, die sich öffnet, erscheint ein anderes Zimmer mit einer neuen Szene.

Anspruchsvolle Duette, scharfe und dynamische Trios, spannende Gruppenensembles. Der träumerische Bolero treibt uns voran, doch die hartnäckigen Marschtrommeln halten uns auf dem Boden.  Der anspruchsvolle und hinreißende Rhythmus, in der Bearbeitung des Komponisten Stefano Corrias, schafft eine neue Komposition, sie treibt uns durch das Haus, voller Spannung auf den nächsten Raum.

In The Rite of Spring sehen wir Angstkultur und Machtkämpfe. Wer sich über die Gruppe erhebt, wird durch sie sofort zur Ordnung gerufen. Das erinnert an den Wahlslogan der Liberalen Demokraten „Normal“ sein, oder an das niederländische Sprichwort „wer sich normal verhält ist schon verrückt genug“ und „nur nicht mit dem Kopf über die Brüstung kommen“.

Wie viel hat sich denn tatsächlich verändert? Obwohl sich „die Auserkorene“ in „The Rite of Spring“ in ihrem Toten-Tanz gegen den ekstatischen Hexenkreis erhebt, gewinnt dennoch die Gemeinschaft der Gruppe. Angst, das wissen wir Alle, ist eine starke Emotion.

Im Bolero sehen wir Individualität und Intimität zunächst nur hinter verschlossenen Türen. Dort herrschen eigene Gefühle und eigener Antrieb. Ravel bezeichnete seinen Bolero einmal als inhaltslos, Merola aber macht daraus eine ganze Welt. Der Mensch lässt sich wenden, schmeichelt und ist hilfreich. Und so symbolisch wie das klingt, so endet auch das Stück, in weißer Unschuld,

 

©Photo Klaus Dilger