„Crossroads to Synchronicity“

Gehen ist Vorfallen

Die Carolyn Carlson Dance Company aus dem französischen Roubaix gastierte mit „Crossroads to Synchronicity“ in der Fabrik Stahlbau Strang, genau dem richtigen Ort für diesen choreografischen  Blick zwischen die Zeiten.

Nachtkritik von Melanie Suchy

Drei Frauen schieben schweren Schrittes jeweils einen Tisch vor sich her: Lasten, an ihre Bäuche geklemmt. Zusammengeschoben, werden sie zu einer langen Tafel, doch nicht für ein fröhliches Festmahl, sondern die aufgetischten Teller erweisen sich als erschreckende Spiegel, niemand wird hier satt. Die Frauen landen auf der Platte, wie erlegt, erledigt, leblos, später sitzen sie auf ihren Stühlen, und die Köpfe sinken unter den Händen dreier kümmernder Herren, unendlich schwer oder nicht wach zu kriegen. So stellt Carolyn Carlson kurz vors Ende der „Crossroads to Synchronicity“ das Bild leidender Frauen. Das stimmt etwas verdrießlich, aber vielleicht ist dieser, der erklärten Optimistin Carlson zum Trotz, trübselig-verstörende Moment eine Warnung an die Gegenwart: lieber wach zu sein, sich durchschütteln zu lassen, Risiken einzugehen, statt den Kopf tatenlos auf die Tischplatte zu legen.

Carolyn-Carlson-Crossroads-to-Synchronicity©TANZweb.org

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Möglicherweise auch, denn nichts ist bei der 1943 in Kalifornien geborenen Meisterchoreografin allzu eindeutig, meint sie hier eine Zeit der Trauer oder psychiatrisch behandelter Depression, wenn diese Gestalten in ihren überlangen Mänteln nicht bei sich sind. Tief hängende, von Haaren verschlossene Gesichter entdeckt  man an mehreren Stellen der Choreografie. Am Ende folgt, was immer „folgen“  heißt, ein einsam erstarrter Mann mit Ehering am Tisch, eine Frau geht auf ihn zu, geht vorbei. All dies, denkt man plötzlich, sei eigentlich der Anfang von „Kreuzung zur Synchronizität“. Dieser Begriff meint denn auch die willkürliche Interpretation zeitlicher Erfahrung: das Empfinden von Sinn und Zusammenhang eigentlich zufällig gleichzeitiger, „sychroner“, Ereignisse, wie es der Psychoanalytiker Carl  Gustav Jung begriff.

Das Stück von 2017, das eine Überarbeitung von „Synchronicity“ von 2012 darstellt und das Carlson gemeinsam mit den Tänzern erarbeitete, bezieht sich, laut Ankündigung, auf persönliche und kollektive, speziell US-amerikanische, Erinnerungen. Die ziehen auf und vorbei, vielleicht auch, als konstante Veränderungen, als Wandern von Szenen, eine Art Kur gegen jenen unguten Stillstand, gegen das Stillsitzen.

Dafür braucht es Fenster und vor allem Türen, damit niemand bloß bleibt, wo er oder sie ist. Durch das Fenster oben an der Rückwand scheinen erst Leute hinein ins Theater zu schauen, später schaut man selber Leuten beim Springen, Fallen und Stehen im Papiergestöber zu. In Schwarzweiß: Ist es  Vergangenheit? In Slow Motion: eine andere Realität? Türen gibt es sogar mehrere auf der Bühne. Doch nutzt die Choreografin sie nicht für simples Rein und Raus, sondern die Dinger wandern selber, gleiten, als  hätten die Häuser ihnen frei gegeben. Die drei Tänzerinnen und drei Tänzer huschen und leben zwischen ihnen, lassen sie vor sich vorbei oder lassen sich verschlucken, machen sie zum Hintergrund, gehen mit ihnen wie mit Begleitern, vorwärts, auch mal rückwärts. Und zuweilen schauen Einzelne dabei zu, lassen passieren. Mit einfachen Mitteln stellt die Choreografin dar, wie sich Rückblicke mit der Gegenwart verschränken, „kreuzen“, und zwar auf insgesamt sanfte oder lässige Weise, ohne König-Blaubart-Drohung.

Wie überhaupt das große Drama als extremer, schreiender Gefühlsausdruck nicht Carlsons Sache ist. Sie stilisiert es, übersetzt es, sie versteht sich als Dichterin, die sie als Schreibende auch ist. Diese Mäßigung wirkt auf Tanztheater-Gewohnte stellenweise irritierend. Man muss sie lesen können.  Einmal rammt ein Mann weit hinten eine Frau mit den Händen gegen eine Wand, kurz wirft  sie dann ihre Arme um seinen  Hals, wieder rammen, wieder umhalsen, bis er sie wegträgt. Sie strampelt. Als dann eine ausgesprochen fröhliche, dynamisch getanzte Szene mit Frauen in Kleidchen, statt wie sonst langen  farblosen Kleidern, folgt, meint man sorglose  Kinder oder Jugendliche zu sehen, vielleicht die Nachkommen, vielleicht eine nächste Generation, mit Partnerschwüngen fast wie beim Rock’n’Roll.

Carolyn-Carlson-Crossroads-to-Synchronicity

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Auf fließende Weise wechseln die Szenen, auch, fast filmisch, der Fokus. Er scheint zwischendurch einzelne Tänzer zu beleuchten oder zu extrahieren, beim raumgreifenden oder beim die eigene Körpermitte nachzeichnenden Solo. Dann wieder synchronisieren sich plötzlich zwei, drei oder alle zur  Unisono-Choreografie, bei der sie sich mit Seitblicken der Kollegen versichern. Auch der Tanzstil ist dem flüssigen Modus verpflichtet, einem  Imperativ des Modernen Tanzes und, laut Selbstauskunft, die persönliche Vorliebe der Choreografin. Fürs Luftige sei Merce Cunningham zuständig gewesen, fürs Erdige Pina Bausch, erklärte Carolyn Carlson in Interviews. Wenn nun ihre Tänzer nach vorn laufen, nach hinten, wieder nach vorn und die Hände lang ausfahren, als wollten sie irgendwo durch oder als stießen sie gegen Glas oder die Finger spreizen wie Sönnchen, dann überstrecken sie ihre Glieder nie, sondern es bleiben Andeutungen. Wenn sie wie ortlos, suchend im Raum herumtapern; wenn sie immer wieder Balancen suchen, kippen, sich auffangen oder von anderen aufgefangen werden oder auf Zehenspitzen wie auf einem Bahngleis oder Seil trippeln. Aber: Alles ist Tanz, nicht Imitation.

Auch bei den etwas zu häufigen Szenen mit Stühlen, die auf und wieder abgetragen werden und ein altmodisches Flair verbreiten, wird dieses reduzierende Prinzip deutlich: Da hocken die Tänzerinnen, Beine übereinander, Kinn auf die Hand gelegt, streichen sich die Haare hinters Ohr. Aber wenn sie dann tanzen, ist es keine Alltagsbewegung mehr und geht schnell  vorbei. Neben den scheinbar banalen Möbeln, Objekten, wie den Stühlen, Tischen, einem Tisch als Bett, einem Zinkzuber zum Reinhocken, fährt die Choreografin zu den Pina-Bausch-artig wechselnden schönen Musikstücken und Songs von Laurie Anderson, Ry Cooder, Tom Waits bis Henry Purcell plus Eisenbahngeräuschen auch geheimnisvolle Dinge auf: Symbole für Spiritualität, für etwas die Normalität übersteigendes. Das ist die eine unverrückbare dunkelrote Tür im Hintergrund, die zunächst aussieht wie ein großes Gemälde von Mark Rothko. Der vergewaltigende Grobian benutzt das statische Ding als Wand. Doch später öffnet sie sich für eine (für die?) Frau, ein Spalt gibt Licht frei, lädt sie ein, sie verschwindet. Diese Tür ist für andere, auch für jenen einsamen Mann am Ende, ein Versprechen, ein Gedanke, vor dem oder mit dem sie stehenbleiben. Warten.

Eine andere, abwärts gerichtete Perspektive gibt die Tonne, die zeitweise vorn auf die Bühne gestellt wird. Auch sie leuchtet manchmal, von unten, an die Gesichter, die sich hineinhängen, von der Schwerkraft gezogen. Ein fast lächerliches Bild. Lässt sie ins Erdinnere blicken? In ein Feuerchen? Oder bloß zum Boden des Fasses?

Von den sechs sichtlich reiferen, feinfühligen Tänzerinnen und Tänzern großartig getragen und gefüllt, ist „Crossroads to Synchronicity“ auch in der Hinsicht ein besonderes Gastspiel, als Carolyn Carlsons Werke in Deutschland seit Jahrzehnten kaum je zu sehen sind. Sie sind hauptsächlich in Frankreich und Italien unterwegs, wo die Choreografin auch seit langem arbeitet.

Carolyn-Carlson-Crossroads-to-Synchronicity©TANZweb.org

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