Eine „lebensverändernde Reise“ in die Heimat seiner Vorfahren
ENOWATE – WAHRHEIT STEHT
Dickson Mbi zeigt: Enowate im Theater Kerkrade
Von Thomas Linden
Leben kann sich nur im Licht entfalten. Die Natur entwickelt sich mit den Impulsen des Lichts und auch wir brauchen es, um als Persönlichkeiten gesehen zu werden. Der britische Tänzer Dickson Mbi zeigt in seinem Solo „Enowate“ – das jetzt im Theater Kerkrade sein Publikum begeisterte – welche Mühen der Kampf um das Licht der Menschwerdung kostet. Öffentliche Aufmerksamkeit hat er dafür 2023 mit dem Gewinn des Olivier Awards erhalten, der ihm für eine herausragende Leistung im Tanz verliehen wurde. Aufgewachsen ist Dickson Mbi in London, aber die Wurzeln seiner Herkunft führen nach Kamerun. Ein kulturelles Spannungsverhältnis, das ihm als junger Mann zusetzte, wie seine Choreografie demonstriert, in der er souverän Narration mit Abstraktion verbindet. Immer wieder findet Dickson Mbi das starke, aussagekräftige Bild. Wenn er etwa aus dem Off die Stimmen der englischen Kinder und Teenager auf dem Schulhof oder dem Fußballplatz im Saal hören lässt, sein Körper aber dem Flow der Gruppe nicht folgen kann, weil sich seine Hand wie festgeklebt nicht vom Boden lösen kann.
Es ist eine Identitätsgeschichte, die hier erzählt wird. Gleich in der Eröffnungssequenz sehen wir diesen großen schwarzen Mann mit seinem kahlen Schädel auf dem Boden liegen. Tastend versucht er sich seiner leiblichen Gegenwart zu versichern. Die Berührungen der Hand mit dem Bühnenboden sind durch den imposanten Theatersaal in Kerkrade bis zum letzten Platz hin zu vernehmen. Hier sucht jemand nach den einzelnen Teilen seines Körpers, um sich selbst als menschliche Kreatur zusammensetzen zu können. Wobei der Kopf nicht immer die Kontrolle über alle Körperglieder hat, so scheint der rechte Arm mal schlaf und unbelebt zu sein, um sich dann wieder an der linken Schulter wie ein kleines Tier festzukrallen. Welch ein Meister der Körperbeherrschung Dickson Mbi ist, zeigt sich nicht zuletzt in solchen originellen Darstellungen körperlicher Defizite. Jede Bewegung ist bei ihm Teil einer Konzeption, die ganz seinem erzählerischen Anliegen folgt. Der Brite nimmt zwar Anleihen beim Hip-Hop aber es gelingt ihm, konventionelle Tanzfiguren zu vermeiden, vielmehr buchstabiert er seine eigne Tanzsprache und berichtet von dem, was Worte nur unzureichend mitzuteilen vermögen. Jenes Leiden an einer Herkunft, die nicht geklärt ist und eines beschwerlichen Trips in die Abgründe des Menschseins verlangt, bildet so etwas wie einen Grundbass in diesem Solo. Zu hören ist er mit einem pochenden Herzschlag, dessen dräuende Unruhe die Aktionen des Tanzes begleitet.
Wie er selbst sagt, war für Dickson Mbi eine „lebensverändernde Reise“ in die Heimat seiner Vorfahren, die in einem Dorf in Kamerun lebten, ausschlaggebend für diese Produktion. Auf der Bühne stellt sie sich wie eine Reise in Herz der Finsternis dar. Spärliche Helligkeit fällt auf den schweißglänzenden Körper, der fragmentiert wirkt, weil immer nur Teile von ihm zu sehen sind, nie wird er komplett in den Blick gerückt. Zudem bewegt sich dieser muskulöse Mann in schlenkernden Rhythmen an den zehn im Hintergrund befestigten Scheinwerfern entlang. Stets den Kopf gesenkt, den Oberkörper herabhängend, berühren seine Finderspitzen den Boden. Gleich einem Tier, das unruhig hinter seinen Gitterstäben hin und her läuft, erzeugt Dickson Mbi auf diese Weise eine nervöse Dynamik.
Es gibt jedoch Erlösung. Konzentriert sich die Choreographie zunächst auf die Schwerkraft des Bodens, der alles einzusaugen scheint und dadurch jede Bewegungen mühsam erscheinen lässt, wechseln im Finale die Gewichtungen. „Enowate“, der Titel von Dickson Mbis Produktion bedeutet übersetzt „Wahrheit steht“, und so richtet sich die ewig taumelnde Gestalt plötzlich zu voller Größe auf. Dickson Mbi verbindet den aufklärerischen Ansatz der Erforschung von Herkunft und Identität mit den mythischen Energien einer Kultur, in der die Geister eine besondere Präsenz besitzen. Mit digitalen Lichtmalereien zeichnen sich diese Gestalten in der Dunkelheit ab, und erzeugen so jene Epiphanie, die den Heroen zum Menschen werden lassen. Nun strebt alle Energie hinauf in die Sphären des Äthers. Dickson Mbi steht breitbeinig in den weißen Lichtfäden des spirituell angeheizten Spektakels. Die tänzerisch komplex angelegte Story erhält damit ein effektvolles aber inhaltlich auch ein wenig dürftiges Finale. Was bleibt, ist die faszinierende Präsenz eines Tänzers, der wuchtige Kraft mit anmutiger Präzision verbindet. Von Dickson Mbi, der so klug europäisches und afrikanisches Weltverständnis miteinander zu verbinden weiß, ist noch viel zu erwarten.