Impressionen einer Versuchsanordnung

Holding Present and let go…

Ula Sickle & Ictus beeindrucken im Flexiforum von Kerkrade mit einer sehr präzisen Performance

Nach(t)gedanken von Klaus Dilger

HIER geht es zur englischen Fassung

Das kleine Städtchen Kerkrade, kurz nach der niederländischen Grenze zu Deutschland, überrascht immer wieder durch spannende Kulturbauten, die zum Entdecken einladen.

Über das Theater haben wir uns oft lobend ausgelassen: es gehört in seiner Symbiose aus Bibliothek, Gastronomie, Volkshochschule und Theatersaal zu den spannendsten zeitgenössischen Aufführungsorten, die hierzulande schmerzlich vermisst werden. Dass sich dies auf der hiesigen Seite der Nachbarländer noch mehr herumsprechen muss, ist ein kleiner Wehmuts-Tropfen, der gelegentlich aufkommt, wenn die oft hervorragenden Gastspiele des schrit_tmacher justdance! Festivals an diesem Ort nicht alle vollständig ausverkauft sind.

Nun eine weitere kleine Entdeckung: das Flexiforum. Ursprünglich als Schule geplant, dient das Gebäude nunmehr als spannende Experimentier-Plattform unter anderem für die performativen Künste.

Ula-Sickle&ICTUS©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Ula-Sickle&ICTUS©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Ideal also für Ula Sickle und das ICTUS-Ensemble, das Kenner und Freunde des Zeitgenössischen Tanzes des öfteren in deren Zusammenarbeit mit der belgischen Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker (ROSAS) erleben durften.

Auch hier hätte diese siebzig Minuten lange Experimentelle-Performance deutlich mehr Zuschauerinnen und Zuschauer verdient gehabt.

„Holding Present“ erforscht, so die Ankündigung des Programmheftes zum schrit_tmacher justdance! 2025, „…wie sich eine kleine, individuelle Geste zu einer ausdrucksstarken, kollektiven Handlung entwickeln kann. Eine Gruppe aus acht Musiker*innen und Tänzer*innen arbeitet langsam und bewusst auf den Moment hin, in dem einzelne Personen zu einer kritischen Masse verschmelzen.“ und weiter:

„Das Ensemble bedient sich ungewöhnlicher Instrumente wie Schwirrhölzern, Aluminiumrohren, Steinen, Megafonen und einem modularen Synthesizer. Gemeinsam erwecken die Musiker*innen und Tanzer*innen sowohl die Musik als auch die Choreografie zum Leben. „Holding Present“ ist eine Einladung, das Fundament für das Miteinander zu legen.“

Nicht immer, eigentlich eher selten, ist das formulierte Anliegen hilfreich für das Erleben einer Performance, so auch hier.

Basierend auf bestehenden und neu in Auftrag gegebenen Kompositionen von Alvin Lucier, Pauline Oliveros, Stellan Veloce und Didem Coskunseven, entwickeln die Performer immer wieder spannende und auch überraschende Klangwelten, die sich in dem Oktogon artigen „Rund“ der Zuschauenden ausbreiten wie das Schweben des schwarzen Fahnenstoffes, das die Performer abwechselnd und sich gegenseitig unterstützend in der Einlasssituation entwickelt haben.

Ula-Sickle&ICTUS©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Ula-Sickle&ICTUS©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Die choreografischen und musikalischen Partituren werden dabei von allen getragen und entwickelt. Das ist einerseits faszinierend, führt aber, bei aller Professionalität der Ausführung, auch dazu, dass die Tänzerinnen und Tänzer in den Bewegungspassagen unterfordert erscheinen. Oder anders ausgedrückt, dass der Wunsch eines fulminanten gemeinsamen Erlebens zu sehr moderiert wirkte und deshalb, so das subjektive Empfinden, keine Einlösung finden konnte.

In Erinnerung bleiben in erster Linie die Freude am Entdecken der Möglichkeiten eines gemeinsamen musizierens mit Körpern und ungewöhnlichen Instrumenten und der entstandenen Zwiegespräche zwischen Tanz und Komposition und einzelne Bilder von Gruppen und Individuen.

Das klingt nach wenig, ist es aber nicht, denn in zunehmenden „Behauptungswelten“, auch im Tanz, erscheint es wohltuend zu sehen, wie professionelle Künstlerinnen und Künstler mit grosser Präzision, ihrem inneren Weg folgend, etwas ausbreiten, das im Augenblick greifbar werden kann, ohne es besitzen oder mitnehmen zu können.

„Holding Present“, den Moment festhalten, anstatt ihn zu leben, muss scheitern und das ist gut so.

Auf das Leben!

Ula-Sickle&ICTUS©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Ula-Sickle&ICTUS©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Konzept, Choreographie Ula Sickle – Konzept, musikalische Leitung Tom Pauwels (Ictus) – Komponisten Alvin Lucier, Pauline Oliveros, Stellan Veloce und Didem Coskunseven – Neue Instrumente von Gert Aertsen – Gestaltung und Aufführung Amanda Barrio Charmelo, Marina Delicado, Marie Goudot, Ruben Martinez Orio, Michael Schmid, Mohamed Toukabri, Tom Pauwels & Ula Sickle – Licht- und Tongestaltung Ofer Smilansky – Bühnenbild Richard Venlet – Kostüme Wang Consulting – Dramaturgische Assistenz Persis Bekkering – Produktion Ictus & Outline –

Co-Auftragsproduktion des Stücks von Didem Coskunseven: Ircam-Centre Pompidou und Ictus –

Koproduktion Ircam/Les Spectacles vivants-Centre Pompidou, Concertgebouw Brugge, KWP (in Pianofabriek), Perpodium