Louise Lecavalier bei schrit_tmacher

Akkustand: 120 Prozent

An einem Montag bleiben zwar viele gern zuhause, weil das Wochenende ereignisreich war. Wie schade aber für diejenigen, die so gedacht hatten: Auf der Bühne stand mit Louise Lecavalier nicht nur eine Ausnahme-Tänzerin, die mit 64 Jahren immer noch als Naturgewalt bezeichnet werden muss. Im anschließenden Publikumsgespräch hat sie zudem die Ausstrahlung einer 20-Jährigen gezeigt, einer äußerst bescheidenen noch obendrein.

Von Rico Stehfest

Den legendären David-Bowie-Pony hat sie abgelegt und trägt jetzt wieder ihre kaum zu bändigenden blonden Locken. Ansonsten hat sich nichts geändert, rein gar nichts. Und das im besten Sinn. Es ist noch immer (fast) die gleiche schwarze Hose, an den unteren Enden weit ausgestellt für die fein ziselierte Beinarbeit, (fast) die gleiche schwarze Jacke, die Louise Lecavalier bereits in ihrem grandiosen Stück „Battleground“ trug. Und ihre Energie, sie ist auch hier, in „Stations“ (2020), ohne Abstriche immer noch sofort da und überträgt sich augenblicklich auf das Publikum.

Dabei wird diese Energie in gewissem Sinn sogar noch weiter sichtbar gemacht, als nur in ihrem komplexen, vor Kraft und Präsenz strotzendem Bewegungsvokabular: Die rechteckige Tanzfläche ist locker eingegrenzt von vier Säulen, nicht streng regelmäßig angeordnet, die von innen heraus leuchten. Zuerst ist es jeweils eine grüne Linie, die sich von unten her aufbaut, der Ladestand eines Akkus. Und der ist randvoll. Daran gibt es keinen Wimpernschlag lang Zweifel. Später, ganz zum Schluss, rutscht dieser Ladezustand dann zwar doch in den roten Bereich, aber dann wird sich zeigen, dass das völlig in Ordnung ist.

Louise Lecavalier_Stations©TANZweb.org_Klaus Dilger

Louise Lecavalier_Stations©TANZweb.org_Klaus Dilger

Und dass, obwohl sie zu anfangs ihre Position auf der großen Bühne erst noch zu suchen scheint. Es wirkt wie ein Austesten, eine kleine Geste einer einzelnen Hand, ein unsicherer Griff in den Nacken. Ein leises Herangrollen aus den Boxen, das sich zu einem intensiven Pulsieren steigert, und los kann er gehen, der unbändige und ungebändigte „Frontalzustand“. Louise Lecavalier wirkt in ihren Bewegungen gleichzeitig in sich gekehrt und vollständig präsent. Sie tanzt genauso für sich, wie sie es für das Publikum tut. Angesichts ihres anfänglichen Abtastens des Raumes könnte man den Eindruck gewinnen, sie wäre mit den gebotenen Möglichkeiten überfordert. Wäre sie nicht Louise Lecavalier. 

Ruhige, kontemplative Phasen stehen hier gleichberechtigt neben furiosen, augenscheinlich unkoordinierten Ausbrüchen zu wildem Saxofonklang, die wie ein Beschwörungsritual anmuten. Immer wieder wechselt die Stimmung; durch vier Stationen führt das Stück. Die vier leuchtenden Säulen sind dabei nur Versinnbildlichung, ohne dramaturgische Zäsuren zu setzen. Schlussendlich zeigt sich auch, dass es ohne Bedeutung ist, ob man an diesem Abend überhaupt bis vier zählen kann. Es tut nichts zur Sache, wo die Grenzen zwischen den „Stations“ liegen oder was sie überhaupt inhaltlich transportieren wollen oder könnten. Dramaturgisch macht Lecavalier ohnehin, was sie will. So bescheiden sie sich in ihrer Funktion als Choreografin auch gibt, sie weiß eben doch ganz genau, was sie tut. Genau deshalb sollte man die Komplexität einzelner Gesten, die immer wieder in den sehr konkreten Bereich greifen, nicht unterschätzen.

Da deuten ihre Fingerspitzen Tränen an, die über ihre Wangen laufen. Im nächsten Moment verzieht sie mit den Fingern ihre Mundwinkel zu einem unnatürlichen Grinsen. Lautlos in die Hände klatschend geht sie zu Boden, die Mimik und der ganze Körper scheinen entkräftet, nur dass sie dort nicht mal eine Sekunde lang verharrt. Diese Künstlerin muss sich einfach bewegen. Die kurzen Pausen zwischendurch sind nur die dünne Absenz von Bewegung.

Immer wieder kehrt sie in eine scheinbar rechtwinklige Geometrie zurück, ist dabei ganz bei sich und kennt ihren persönlichen „Battleground“ bestens. Sie weiß genau, was hinter allem liegt. Illustriert wird das gegen Ende durch den Song „Nerissimo“ von Teho Teardo und Blixa Bargeld. Darin heißt es: „I sing what I sing best / Black / The blackest / Until it gets to the other side / And there′s no more / No more darkness left“. Louise Lecavalier hat so einiges begriffen. Sie erhebt die Fäuste und boxt sich durch, wortwörtlich. Bis sie sich schließlich langsam rückwärts über die Bühne bewegt und es wirkt, als würde die Dunkelheit sie ganz langsam verschlucken.

Dass es sich dabei tatsächlich um einen Kampf ums Überleben handelt, hat sie im anschließenden Publikumsgespräch betont. Vollkommen fragil sei sie auf der Bühne. Und danach befragt, ob es für sie ein Leben nach dem Tanz geben könne, brachte Lecavalier die einzig denkbare Antwort. Selbst wenn sie mit dem Performen aufhören würde, so ihre Worte, wäre sie noch immer ein Körper, der sich bewegt. Sie wird also immer tanzen.

Louise Lecavalier_Stations©TANZweb.org_Klaus Dilger

Louise Lecavalier_Stations©TANZweb.org_Klaus Dilger