Ohad Naharin’s „THE HOLE“ ist überwältigend.  In der Flut der Bilder und Emotionen ist das Publikum beinahe zu dreihundertsechzig Grad eingekreist von den zwei mal acht Tänzerinnen und Tänzern. – Ein beispielloses physisches Betrachtungserlebnis, gegenüber dem niemand unberührt bleiben kann.

 

Nachtkritik von Klaus Dilger

 

Es dürfte eines der unmittelbarsten, intimsten, zupackendsten und auch schönsten Werke der zeitgenössischen Tanzkunst sein, das die Macher des schrit_tmacher justDANCE! Festivals in seiner dreiundzwanzigsten Ausgabe dem Publikum im Parkstad Limburg Theater in Heerlen gleich neunfach geschenkt haben.

Die Rede ist von Ohad Naharin’s „The Hole“, kreiert in 2013 für die Batsheva Dance Company und nun in 2018 mit den grossartigen Tänzern des NDT1 einstudiert. Dies war ein Geschenk, und nicht einfach eine Aufführung, denn eigentlich galt dieses Werk, ob seiner komplexen Voraussetzungen, schon bei seiner Entstehung als nicht aufführbar ausserhalb des Studios im Suzanne Dellal Centre in Tel Aviv. 

Dass dies dennoch möglich geworden ist, verdankt das Publikum der Tatsache, dass es sich hierbei um eine Co-Produktion von Nederlands Dans Theater mit dem schrit_tmacher justDANCE! Festivals handelt, welches nicht zuletzt hierdurch seine Bedeutung als eines der wichtigsten und grössten Tanzfestivals im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus unterstreicht. Unsere Kritikerin Nicole Strecker vergab anlässlich ihrer Eröffnungskritik das Superlativ des „eigensinnigsten Tanzfestivals“ und dies im positivsten Sinne, weil die Macher dieses fünfwöchigen Tanzereignisses es nicht einmal nötig haben, das Festival mit ihren Hochkarätern zu eröffnen, wie etwa Hofesh Shechter, Ohad Naharin, Sidi Larbi Cherkaoui oder Michael Clark, die alle in dieser Ausgabe 2018 vertreten waren.

©Rahi Rezvani

„The Hole“ ist atemberaubend und die Gründe hierfür sind multibel. Die Zuschauer sitzen in einem achteckigen Raum in drei achteckig angeordneten Reihen um die achteckige Bühne, deren Durchmesser acht Meter beträgt. Hinter der dritten Sitzreihe erhebt sich über den Köpfen der Zuschauer ein vorab nicht wahrnehmbarer Steg, der zur Aktionsfläche für die acht Tänzerinnen wird, die zu Beginn mit dem Rücken gegen die jeweilige Wand stehen, als wären sie Statuen antiker Göttinnen oder Priesterinnen. Vollkommen ansatzlos knallen sie zeitgleich gegen ihre Wände und eröffnen einen Bilder- und Bewegungsreigen, dessen Präzision beinahe unvorstellbar und dabei gleichzeitig so authentisch ist, dass dieser nur als instinkthaft und animalisch bezeichnet werden kann. Kaum haben sich diese Bilder in unsere Netzhaut gegraben, katapultieren sich acht männliche Tänzer aus dem Nichts und ebenso ansatzlos auf die Bühne. Eine Stunde lang und eine Armlänge von uns entfernt, werden die Tänzer die Zuschauer an einer Geschichte teilhaben lassen, die keine ist und die wir doch als die unsrige wahrnehmen werden. Voll explosiver Zartheit, Leidenschaft und Phantasie reissen die Protagonisten die Zuschauer mit in eine Welt, die Himmel, Erde und deren Inneres im Wortsinn stets unvorhersehbar verbindet, über den Köpfen, zu deren Füssen oder auf direkter und unmittelbarer Augenhöhe. Dabei spielt es, wie so oft bei Ohad Naharin, keine Rolle, ob es die Männer oder die Frauen sind, die das Bühnengeschehen bestimmen. In „THE HOLE“, das stets in zwei Aufführungen am selben Tag in Heerlen zu erleben war, wird die Geschlechteraufteilung des Bühnengeschehens bei exakt derselben Choreografie jeweils umgekehrt.

©Rahi Rezvani

Die Zahl „acht“ wird bei Naharin zur senkrecht stehenden Lemiskade. Alles scheint permanent im Fluß zu sein, Anfang und Ende verlängern sich in der Phantasie zu einem unendlichen Ganzen.

So erwiesen sich selbst die neun restlos ausverkauften Aufführungen im Rahmen des schrit_tmacher Festivals als viel zu wenige, denn allzu gern hätte die Mehrheit der Zuschauenden die jeweils andere Version des Werkes miterlebt.

„The Hole“ ist berauschend und macht sprachlos zugleich. In der Flut der Bilder und Emotionen ist das Publikum beinahe zu dreihundertsechzig Grad eingekreist von den zwei mal acht Tänzerinnen und Tänzern. – Ein beispielloses physisches Betrachtungserlebnis, gegenüber dem niemand unberührt bleiben kann. Es ist der absolute Höhepunkt des diesjährigen Festivals, mit dem schrit_tmacher die Tanzbegeisterten der belgischen, niederländischen und deutschen Grenzregion und sogar weit darüber hinaus nach Eupen, Heerlen und Aachen pilgern lässt.

Dass sowohl der Felsendom in Jerusalem, als auch die Pfalzkapelle des Aachener Doms um ein zentrales Oktogon gebaut wurden, gerade so wie Naharin’s „The Hole“, ist in seiner Symbolik vielleicht doch mehr als nur ein schöner Zufall.

©Rahi Rezvani