schrit_tmacher justDANCE! 2023

Pite’s „REVISOR“ – ein getanzter Geniestreich

Crystal Pite | Kidd Pivot zeigen ihn im Theater Heerlen

 

von Thomas Linden

Wenn es auf der Bühne um Russland geht, stellt sich die Verbindung zum aktuellen Krieg zwangsläufig her. So ist es auch angesichts des Gastspiels, das die aus Vancouver stammende Kompanie Kidd Pivot mit ihrer Produktion „Revisor“ im Theater Heerlen präsentierte. Dabei waren Autor Jonathan Young und Crystal Pite, die als Choreographin auch beim Nederlands Dans Theater arbeitet, schon 2020 mit dieser Arbeit zum Festival schrit_tmacher in die Euregio eingeladen worden.

Nicolai Gogol schrieb seine Komödie „Der Revisor“ 1835, aber da sie die Kernbeziehung, die in Russland zwischen Volk und Staat so besonders treffend beschreibt, besitzt sie gerade heute bittere Realität. Gogol erzählt von einer kleinen Provinzstadt, in der seit eh und je Korruption und Vetternwirtschaft herrschen. Die Menschen sind zufrieden, solange sie der Staat, von dem sie nichts Gutes erwarten, in Ruhe lässt. Nun geht das Gerücht um, dass sich ein Revisor unerkannt in der Stadt aufhält. Sofort nimmt man an, dass es sich dabei um den jungen Mann handelt, der einen Tag zuvor als Reisender eingetroffen ist. Man umschmeichelt ihn, steckt im Geld zu, und die Tochter der Bürgermeisters verliebt sich auf der Stelle in ihn. Tatsächlich handelt es sich aber um einen jungen Assesor, der es noch nicht weit gebracht hat und sich auf dem Rückweg zu seiner Familie in St. Petersburg befindet. Letztlich staubt er das Geld ab und verschwindet, während die Stadtgesellschaft hinter die Täuschung kommt und sich nun dem wahren Revisor ausgesetzt sieht.

Revisor_©Michael-Slobodian

Revisor_©Michael-Slobodian

In den Rekrutierungsaktionen der Armee findet Gogols Komödie derzeit ihre grausige Aktualität. Die Hand der Zentralregierung greift nach dem Leben der kleinen Leute. Was das für die Menschen in Russland damals schon bedeutete, demonstriert die Inszenierung von Crystal Pite gleich in der ersten Szene. Mit dem Gerücht ist der Schrecken sofort da. Er fährt den Menschen buchstäblich in die Glieder. Dazu wählt Pite eine eigenartige Bewegungsweise. Die Tänzer verharren in Langsamkeit und bewegen sich dann rasend schnell voran. Wie bei einem Film, den man anhält und rasch vorwärts spult, ergibt sich ein extrem ungleicher Bewegungsrhythmus. Schockierend wirkt das schon allein deshalb, weil man nie vorher ahnen kann, was als nächstes geschieht. Zudem gefrieren die raschen Körperreaktionen wieder in expressiven Gesten ein. Der Mund bleibt aufgerissen, die Augen geweitet. So blicken sie uns erschrocken an. Eine unerhörte Dramatik entsteht, deren Energie sich bis ins letzte Bild erhält.

Revisor_©Michael-Slobodian

Revisor_©Michael-Slobodian

Zwar bleibt die Komik stets präsent, aber eine dichte Atmosphäre von Angst und Bedrohung beherrscht die Szene. Mit wenigen Requisiten, einer brillanten Lichtführung und stilsicher gewählten Kostümen, entsteht ein historisches Ambiente, das den Rahmen für faszinierende Bilder schafft. Eine ästhetische Nähe zu den Produktionen der belgischen Kompanie Peeping Tom ist nicht zu übersehen.

Mit ihrer Lichtdramaturgie erzählt Crystal Pite neben der Story auch von den inneren Bewegungen der Figuren. Hier greifen der Text von Jonathan Young und die aus dem Off sprechenden Stimmen die seelischen Verwerfungen der Protagonisten auf. Die expressiven Tanzpassagen geben uns Einblick in die Emotionen als dem eigentlichen Räderwerk menschlicher Motive. Dass der junge Assesor für einen Staatsbeamten gehalten wird, entspringt der Projektion der Honoratioren, die im Grunde Gauner sind. Gogol charakterisiert das kollektive Unbewusste einer Gesellschaft und das Ensemble von Kidd Pivot lässt diese Bewegung im Bild gerinnen. Für Momente wird das Spektakel angehalten und die Beziehungen der Figuren lassen sich studieren wie eine Landkarte der Seele.

Dass Crystal Pite und Jonathan Young einen Blick für die psychologische Mechanik dieses Stücks entwickeln, das beständig zwischen Theater und Tanz changiert, erweist sich auch deshalb als Geniestreich, weil uns Gogol eine Lektion in Sachen Identität erteilt. Identität ist eben in wesentlichen Teilen eine Zuschreibung von außen. Die Erwartung bestimmt die Definition des Anderen. Gegen Ende zeigt Crystal Pite den vermeintlichen Revisor als schlaffe Körperhülle. Aber auch das Personal des Städtchens agiert wie ein Ensemble von Puppen, deren Gelenke von einer unsichtbaren Macht in Funktion gesetzt werden. Belebt wird dieses anderthalbstündige Meisterwerk der Tanzkunst durch ein Timing, das schlichtweg atemberaubend ist. Hier sitzt jede Geste, jede Drehung, jeder Augenaufschlag. Eine Tanzmaschine, die ihrem Publikum geradezu verschwenderisch Erkenntnis und Genuss bietet.

Revisor_©Michael-Slobodian

Revisor_©Michael-Slobodian