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Wunder sind möglich
Hymne an die Humanität: Das Community-Art-Projekt „Simurgh“ des niederländischen DIK Danstheater rührt zu Tränen
HIER geht es zu den Videoimpressionen und der englischen Übersetzung
Von: Harff-Peter Schönherr
In der Welt der Mystik ist alles möglich. Auch die Suche nach einem weisen König übernatürlicher Kräfte, an deren Ende die Suchenden erkennen, dass sie selbst dieser König sind.
Wir befinden uns in der persischen Dichtung des 12. Jahrhunderts, bei Farid ud-Din Attar und seiner „Konferenz der Vögel“. Tausende von ihnen brechen auf zu dieser Suche, zur Suche nach Simurgh, dem weisesten aller Vögel, dem Vogel des Glücks, zu einer Reise durch Unwirtlichkeit und schroffe Täler, und 30 halten durch. Aber diese 30 finden kein Fabelwesen, ehrfurchtgebietend und fremdartig, sie finden Erkenntnis, Wahrheit und Vollkommenheit. Und sie finden alldas in sich selbst. Simurgh, zeigt sich ihnen, ist die Gemeinschaft aller.
Das Inklusions- und Community-Art-Projekt „Simurgh“ des niederländischen DIK Danstheater entlehnt dieser symbolgeladenen, augenöffnend psychologisierten Sufismus-Legende ihren Grundgedanken: Die Suche nach der Menschlichkeit, nach dem Miteinander.
30 Darstellende lässt Choreograf Jordy Dik aufbrechen, und wer verstehen will, was zu suchen und zu finden sie uns ermutigen, muss nichts über den Sufismus wissen, über Attar und das alte Persien. Alles erschließt sich uns so unmittelbar, fast wie selbstverständlich, dass es scheint, als ereigne sich hier ein kleines Wunder.
„Simurgh“ illustriert die „Konferenz der Vögel“ nicht, und das ist gut so. Was Diks 30 Erkenntnisreisende uns zeigen, ist ganz im Hier und Jetzt. Dass sein Ensemble diverser nicht sein könnte, vom Alter bis zur Hautfarbe, sich in ihm angehende Bühnenschaffende zu Laien gesellen, Menschen mit Behinderung zu Menschen ohne, ist ein schönes, würdiges Abbild der Vielfalt des Lebens. Und das „Simurgh“, in all seiner lebensbejahenden Leidenschaft und appellativen Energie, in all seinem Feinsinn und Hoffnungsmut, in nur viereinhalb Tagen Improvisation entstanden ist, in der Premierenwoche, ist das zweite Wunder des Abends.
Das dritte ereignet sich, sobald das Licht erlischt: Bilder tiefen, poetischen Zaubers entfalten sich vor uns. Die 30 Reisenden lassen weiße Federn schweben, und niemand ist im Saal, der in ihnen in diesem Augenblick nicht die 30 Vögel sieht, die am Ende finden, was sie suchen. Trancehafte Harfenklänge setzen ein. Aus einer einzelnen Gesangsstimme werden viele. Ein Sprecher bestärkt uns, dass das Leben wunderschön ist. Mit Nachdruck tut er das, aus ungespielter Überzeugung.
Jemand zählt bis 30, und alle 30 Reisenden stehen uns gegenüber. Und dann beginnt ein Wirbel aus Freude. Aus Tanz aller Formen, aller mit allen. Aus Freude wird Schmerz, weil auch das zum Leben gehört, zu unserer Suche nach uns selbst. Auf Schmerz folgt Linderung. Auf Linderung Lachen. Auf Lachen Nachdenklichkeit.
Sicher, nicht alle Darstellenden beherrschen zeitgenössischen Tanz, nicht alle sind artikulationsfest, haben solofähige Stimmen. Aber das macht nichts. Sie sind auf einer Mission. Und die bewältigen sie bravourös. Virtuosität sieht man überall. Authentizität wie diese ist ein Kleinod.
Drums und Trompete, E-Bass, Saxophon und Posaune steigern sich zu druckvoller, treibender, helligkeitsbejahender Rhythmik. Dazwischen elegische Querflöte. Dazwischen sphärische Violine. Dazwischen Vogelgezwitscher. Dazwischen düstere Dissonanz, weil es kein Dasein gibt, dem sie fehlt. Elektrisierend ist das.
Tanzende wechseln an Instrumente, zum Gesang, zurück zum Tanz. Jeder ist überall. Jeder ist achtsam zu jedem. Jeder freut sich an der Freude des anderen, sorgt sich um dessen Sorgen. Alles durchmischt sich mit Allem, auch die Sprache: Niederländisch ist zu hören, Deutsch, Englisch, fast wie universell.
Alles strahlt Positivität aus, Fülle, Beseeltheit. Hier ein schnelles Streicheln, dort eine feste Umarmung. Man trägt einander, stützt einander, fängt einander auf. Wer das für naiv hält, hat kein Herz. Schön ist das, warmherzig. Und es ist keine Rolle: Echter, bewegender, ungekünstelter, geht es nicht. Eine Hymne an die Humanität.
Worte brennen sich ein. Worte wie: „Sie spricht nicht mit ihrem Mund, sondern mit ihren Augen!“ Worte wie: „Menschen sind wunderbar!“ Worte wie: „Was flüstern die Steine?“ Worte wie: „Sag mir, was das Leben will!“ Worte wie: „Ich tanze über die Wolken!“ Worte wie: „Menschen können Künstler sein!“ Worte wie: „Ich bin vieles!“
30 Vögel. 30 Menschen. Zur 30. Ausgabe des „schrit_tmacher“. Passender geht es nicht.
Und dann, die 50 Minuten von „Simurgh“ sind vergangen wie ein einzelner, balsamischer Atemzug, laufen Tanzende in die Zuschauerreihen hinauf. Jemand ruft laut: „Kommt auf die Bühne, wenn ihr wollt!“ Und das Publikum, das schon vorher mitgeklatscht hat, rückhaltlos, und mitgesummt, und mitgelacht, mit strahlenden Augen, erstaunt über seine eigene Rührung, will. Dutzende strömen nach vorn. Wirbeln mit in diesem Tanz des Lebens. Manche stehen Tränen in den Augen vor Glück.
Am Ende sitzen die 30 dem Publikum gegenüber, und Dik erzählt, wer wer ist, und was sie dagegen getan haben, dass sie erst nur 28 waren. Und wer will, kann sagen, was er gerade empfindet. Eine Zuschauerin sagt, sie nehme „einen Schatz“ mit nachhause. Dik sagt: „ich hoffe, ich sehe euch mal wieder, irgendwo in der Welt.“ Dann ist das Wunder vorbei.