Sidi Larbi Cherkaoui begeistert mit „Sutra“ beim schrit_tmacher Festival in Heerlen

Von Klaus Dilger

Fast zehn Jahre nach seiner Uraufführung in London, begeistert Sidi Larbi Cherkaouis „Sutra“ noch immer das Publikum und sorgt in den Parkstad Limburg Theaters in Heerlen, für einen der Höhepunkte des schrit_tmacher justDANCE! Festivals 2018.

„Sutra“ heisst übersetzt „Faden“ und steht im Hinduismus und Buddhismus für eine Sammlung von aphoristischen Versen, die durch ein gemeinsames Thema verbunden sind. Im übertragenen Sinne auf den Tanz also, die Essenz, die in wenigen reduzierten Bewegungen in der Lage ist, alles Wissen um diese Welt auszudrücken und weiter zu geben.

Auch das Stück entfaltet sich wie eine Reihe von Strophen, an dessen Beginn ein junger Mönch und ein westlicher Tänzer wie Schachspieler über ein Miniaturmodell der Bühne gebeugt sitzen; oder sind sie Götter, die mit den Schicksalen der Menschen spielen, oder sitzen hier Dante und Vergil?

© Andree Lanthier_ SUTRA - Sidi Larbi Cherkaoui

© Andree Lanthier_ SUTRA – Sidi Larbi Cherkaoui

Bald werden sie in die lebensgroße Welt der Bühne des Bildhauers Antony Gormley eintauchen, deren Brillanz in ihrer Einfachheit liegt: Holzkisten, wie mannshohe offene Särge, einfache Sockel, Gefängnisse, Nekropole und Falltüren zu einer anderen Welt zugleich. Dominosteine und dann wieder die Blütenblätter einer Lotusblume. Und wenn die Mönche sie auf den Schultern tragen, werden sie zu Kreuzen und zu Metaphern der Unterdrückung.

Das Stück erzählt von Aufbau und Zerstörung, mehr aber noch von Transformation.

„Sutra“ ist auch eine Reise zwischen westlicher und östlicher Kultur und der Versuch einer gemeinsamen zeitgenössischen Kreation, die beide Kulturen auf Augenhöhe gleichermaßen unangetastet zu verbinden versucht. Und es ist auch ein Ergründen des Anderen, auch des anderen Körpers.

© Andree Lanthier_ SUTRA - Sidi Larbi Cherkaoui

© Andree Lanthier_ SUTRA – Sidi Larbi Cherkaoui

Cherkaoui spinnt daraus mit großer Empfindsamkeit zwei Fäden, die einander zu umkreisen scheinen und einander verstärken, auch wenn sie als einzelne Elemente stets sichtbar bleiben und deshalb nicht Eins werden wollen oder (noch) nicht können.

© Andree Lanthier_ SUTRA - Sidi Larbi Cherkaoui

© Andree Lanthier_ SUTRA – Sidi Larbi Cherkaoui

Über weite Strecken fasziniert der Kontrast der beinahe schon zarten Bewegungen des Tanzes in den tänzerischen Soli mit den kraftvollen martialischen Bewegungsfolgen der Shaolin. Das Gefühl von Fremdheit bleibt allgegenwärtig und spürbar, auch wenn sich irgendwann die Erkenntnis einstellt, dass beide in Wahrheit nach dem gleichen geistigen Fluss streben, der Kulturen wie Körper bewegt.

„Sei wie Wasser…“ war einer der Lehrsätze von Bruce Lee.

 

Porträt des Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui

Von Nicole Strecker

Der flämisch-marokkanische, also „bi-kulturelle“ Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui beschäftigt sich seit seinen Anfängen mit der Frage, was passiert, wenn verschiedene Kulturen, Religionen aufeinandertreffen. Er hat dafür Preise (nicht zuletzt den hochdotierten Kairos-Preis) bekommen und die Etikette „spiritueller Choreograf“. Und auch wenn er selbst das Physische seiner Arbeiten betont und sagt, er fühle sich wenn schon, dann von einem „spirituellen Glauben an den Körper“ durchdrungen – so wird er doch in vielen seiner Arbeiten dem Ruf gerecht, der ‚metaphysisch inspirierte Integrationsforscher’ unter den Choreografen zu sein

Cherkaoui ist in das berühmte Kloster von Henan zu den Shaolin-Mönchen gereist: Hochschnalzende Körper wie Sprungfedern, Flugattacken, Schattenboxkämpfe – man kennt ihre Kampfkunst aus diversen Shows, als „Martial Arts“ hat sie die Kinos erobert. Auch für Cherkaoui war das so etwas wie Bruce Lee ‚in echt’, die Bewegungskunst eines seiner Jugendidole in spirituellem Rahmen. Doch die erwartbaren Showanteile des Shaolin unterwandert Cherkaoui in seinem Stück. Er irritiert die Demonstration von Kontrolle und Uniformität durch die Präsenz eines anderen, eines un-asiatischen Körpers.

© Andree Lanthier_ SUTRA - Sidi Larbi Cherkaoui

© Andree Lanthier_ SUTRA – Sidi Larbi Cherkaoui

In den ersten Versionen war er es noch selbst, der den „Störer“ tanzte. Mit seinem unglaublichen Gummi-Körper faltete er sich in eine der sargähnlichen Kisten, die für jeden Performer auf der Bühne bereit stehen. Oder er stellte sich ganz wörtlich auf den Kopf, während sein Körper dabei so schlaff aussah als hinge er wie ein schwerer Sack – verkehrte Welt. Überhaupt: Cherkaouis Attacken auf den Kopf. Selbst die tollsten Tänzer lassen dieses Körperteil gern verschont. Anders Sidi Larbi Cherkaoui. Er zeigt ganz physisch, wie Denken kirremacht, wie Denken Tanzen im Kopf ist. Er kann seinen Kopf schlackern lassen, als wäre er nur noch durch einen dünnen Faden mit der Wirbelsäule verbunden. In einem seiner besten Stücke, „Zero Degrees“, einer Kooperation mit seinem Tänzerkollegen Akram Khan, prellt dieser Cherkaouis Kopf auf dem Boden herum wie einen Basketball – hochvirtuose Brutalität. Und schließlich verrät seine „Kopf-Beherrschung“ auch seine tänzerischen Wurzeln: In lässiger HipHop-Manier dreht er gelegentlich auf seinem Haupt, als wäre dies die natürlichste Form einer Pirouette – und für ihn ist sie tatsächlich naheliegender als die ballettöse Variante.

© Andree Lanthier_ SUTRA - Sidi Larbi Cherkaoui

© Andree Lanthier_ SUTRA – Sidi Larbi Cherkaoui

Mit 17 Jahren imitiert er den Streetdance von MTV, tritt in Shows auf. Als er sich dann im Jahr 2000 in der Kompanie des belgischen Starchoreografen Alain Platel der Tanzszene präsentiert, ist er längst ein Bewegungs-Wunderkind: Flamenco, die Stakkatos des indischen Kathak, Zirkusartistik und Spitzentanz in Turnschuhen – Sidi Larbi Cherkaoui beherrscht jeden denkbaren Stil. Er verschwendet sich auf der Bühne, ist ein Besessener, den man für seinen Mut und seine Selbstaufgabe liebt. Und der als Choreograf so ernst und fantasievoll wie ein übersensibles Kind immer nur die aller-kompliziertesten und -größten Fragen unserer Gegenwart stellt – etwa nach den Widersprüchen und Paradoxien der Globalisierung.

Man lacht, grübelt, ist entrückt in seinen Stücken, staunt über seine Empfindsamkeit, sein unermüdliches Nachspüren, was die ‚andere‘ Kultur, der ‚andere‘ Körper sein kann. Mit seiner Choreografie „Sutra“ hat er darauf eine unvergessliche, kraftvoll-klischeefreie Antwort gefunden.

© Andree Lanthier_ SUTRA - Sidi Larbi Cherkaoui

© Andree Lanthier_ SUTRA – Sidi Larbi Cherkaoui