schrit_tmacher justDANCE! eröffnet mit Chouinard

Vollendung wäre nicht lebendig

im Parkstad Limburg Theater in Heerlen noch einmal morgen um 20 Uhr

Nachtkritik von Melanie Suchy

Statt mit einer großen Sause begann das Schrittmacher-Festival 2023 mit einer Reihe von Säuschen. Marie Chouinard aus dem kanadischen Montreal sollte eigentlich 2020 mit ihrer Company ihr Gastspiel geben mit „Radical Vitality“, einem Werk, das ihr vierzigjähriges Jubiläum als Choreografin markierte. Radikal war, was genau damals, im März, die Welt heimsuchte und was mit der Kulturszene passierte und allem anderen auch. Absagen, Pläne übern Haufen werfen. Um die Vitalität wiederum wurde gerungen. Eine lange Zeit. Nun stehen die Tänzerinnen und Tänzer wieder auf den Bühnen, das Publikum sitzt davor. Das Stück zeugt tatsächlich von ziemlich radikaler Vitalität, Lebendigkeit, Lebhaftigkeit, Lebenslust, auch Liebeslust und Augenschmaus. Aber: Es ist kein Stück.

„Radical Vitality“ betitelt eine Abfolge von achtzehn kurzen und sehr kurzen Szenen. Am besten, man weiß das vorher nicht und lässt es einfach laufen ohne mitzuzählen. Irgendwie passt auch alles, wie es aufeinander folgt und im Ganzen eine Art Zusammenfassung ergibt mit meistens ein oder zwei Personen pro Auftritt, dem Nukleus von Bühnentanzwerken. Vielleicht wird darin umso sichtbarer die Frechheit im besten Sinne, mit der die Choreografin seit jeher auf den guten Geschmack des Ebenmaßes p…st. Die Eleganz deutet sie an, die haben die Tänzerinnen natürlich drauf, das Ballett, die barocke Schönheit, das Gerade, Erhobene, die ordentlichen Arme. Doch plitsch, als fiele ein Stein in die Wasseroberfläche, die das gekonnt Schöne spiegelt, wellt und beult und streckt sich der Körper woanders hin. Es hat immer wieder etwas Befreiendes und ist doch streng geformt, komponiert. Von einer Meisterin.

Die Szenen stammen aus fünfzehn Choreografien von Marie Chouinard bis zum Jahr 2018. Die älteste, man ahnt es beim Schauen, ist Nr. 5, „Petite danse sans nom“ von 1980. Eine Tänzerin tritt auf von links, Paige Culley im Kleidchen, in der linken ein Wasserglas wie eine Trophäe, in der rechten Hand einen Blecheimer. Hält an, stellt ab, trinkt, trinkt aus, steht breitbeinig über dem Eimer. Pisst, es ist auch hörbar, rückt die Füße wieder nebeneinander, trägt Eimer und Glas davon, wie im Triumph, fast ein bisschen pina-bauschig, dieses Ha! im Gesicht.

Äußerungen

So scheinen die Tänzerinnen und Tänzer in den paar Minuten, die sie haben, eine Aufgabe abzuarbeiten. Doch setzt Chouinard, Jahrgang 1955, ansonsten keine knalligen Ah!-Oh!-Iiih!-Pointen. So vermeidet der Abend trotz der Zwischenappläuse, allzu deutlich als Nummernshow zu fungieren. Außer bei dem kleinen Glöckchen, der „Royal Bell“ aus „Orpheus and Eurydice“ von 2008, das Carol Prieur in der Hand  klingeln lässt, dann in den goldenen Schlüpfer steckt. Bauch und Brustkorb  beulen aus, dellen ein, würgen, bis das Glöcklein auf der Zunge liegt.

Einen Hauch albern ist das, wie auch die Knutschattacke aus „Chorale“ (2003), bei der ein Mann auf einem Podestchen „ho ho ho“ ruft wie ein amerikanischer Weihnachtsmann und völlig ungerührt, als Skulptur eben, das laute Abschmatzen und Anlecken der Besucherin über sich ergehen lässt. Diese stakst danach total high oder wie erblindet, Augen zum Himmel, davon.

Sex und Sound

Körper machen Geräusche. Auch dabei. Bei dieser Chouinard-Compilation ist das als wiederkehrendes Thema ihrer Tänze erkennbar. Im Grunde sind es immerzu Orpheus und Eurydice, ist es immer Oper, la petite mort, das Begehren, das Singen, Sehen, Singen, Verstummen.

Atmen, Keuchen, Seufzen, Juchzen, Quietschen, Kreischrufen  choreografiert Chouinard mit den Körpern, den Lungen, Armen und Stimmen. Auch Weinen. Letzteres im Duett mit dem Lachen (aus „The Golden Mean (Live)“), bei dem sich ein Mann und eine Frau gegenseitig piesacken, aneinander zerren, sich schubsen, einklemmen, Paige Culley und Luigi Luna. Das jeweilige „Opfer“ heult, die/der Attackierende lacht. Im fließenden Wechsel. Aber dann hockt er sich schwer auf ihren Brustkorb, als sie liegt: Und sie lacht. Ha! So einfach ist das Paaren oder das Miteinander von Paaren nicht entzifferbar. Was ist Pein, was Wohlgefallen?

Languages of love

Vulgär wird Chouinard nie. Sie hintergeht das Banale mit comic-haftem Strich. Mit ihm übertreibt und verkrümmt, verdreht, spreizt und knickt, zerflattert und verstolpert sie die Szenen. Ihre Tänzerinnen und Tänzer sind auch Clowns. Die radikale Vitalität ist nämlich das Trotzdem. Die Perfektion nicht zu erreichen, komisch abzubiegen, das Kommende nicht zu wissen und dennoch zu tanzen. Und das zu lieben.

Eindrücklich wird das in einem anderen Duett aus „The Golden Mean (Live)“ von 2010, der vorletzten Nummer. Die eine Tänzerin schreitet gesittet und im majestätischen Tempo, eine kleine Göttin des höfischen Balletts mit vier Gesichtern rundum am Kopf; alles ist ihr ein Vorne. Dieser Kopf ruckt maschinenhaft nach rechts und links, die Perückentroddeln fliegen. Während die andere Tänzerin das Große zu fassen versucht, das Unsichtbare, ihre Beine hochwirft, sich auf halbe Spitze stellt, die Arme reckt, aber halbherzig, irgendwie schlabbrig, als trage sie alte Klamotten auf, in denen sie weder sich noch die Große Schönheit wiederfindet. „Tell me“, ruft sie, „is it really matter?“

Zweimal gegen Ende lässt Marie Chouinard eine Gruppe aufmarschieren (ebenfalls aus „The Golden Mean (Live)“). Aber nicht um die Power zu vervielfachen, die ihre Company auszeichnet und die von der hallenden Elektronik-Geräusche- und Instrumentalmusik von Louis Dufort unterstützt wird. Sondern die Tänzerschar trägt falsche Gesichter an den Köpfen, große Fotografien von, erst, weißhaarigen Leuten, dann Babies mit großen Augen, die auf Stühlen lümmeln und stehen, dann auf allen Vieren krabbeln bis zur Bühnenrampe und ins Publikum starren. Wenn sie starren könnten. Sie sind nur Abbilder. Erinnern an früher und an die Zukunft. Putzig, platt, dennoch verstörend. Kein Braus, kein Saus. Aus.