Schrittmacher Festival: „The Four Seasons“ von James Wilton Dance in Aachen, Fabrik Stahlbau Strang

Versöhnt mit der Welt

Kritik von Nicole Strecker

Wer hätte das gedacht: Das Ende der Welt – es könnte auch ganz sanft und friedlich sein? Da sitzen wir nun, ein schwer gebeuteltes Publikum, haben den schrecklichen Krisen-Dreiklang „Krieg! Corona! Klima!“ im Kopf, und sollen jetzt auch noch den „Entropischen Hitzetod“ des Universums anschauen. So steht es im Programmheft. Und dann ist die Apokalypse geschehen und die Zuschauer springen beseelt von ihren Sitzen auf, so mancher vermutlich nur drei Worte im Kopf: „Einfach. Nur. Schön.“

Das ist James Wilton Dance. Eine kleine Kompanie aus dem bezaubernden Cornwall im Süden Großbritannien, vor zwölf Jahren von James Wilton gegründet und gelegentlich schon auf Festivals in Festland-Europa zu Gast: Polen, Österreich, Spanien, Deutschland. Keine Big Player im Festival-Zirkus. Aber ein exzellenter Programm-Tupfer, will man seinem Publikum mal einen Abend lang Ruhe geben von aufrüttelnden, konzeptstarken, kritischen Performances und Tanzabenden, und stattdessen fantastische Tänzer, schnelle, geschmeidige Choreografien, eine geschmackssichere Inszenierung und eine Gruppe sehr sympathischer, auch sehr ernsthafter Menschen zeigen. Intelligente Unterhaltung.

ANHANG-DETAILS James-Wilton-DRIFT©TANZweb.org_Klaus-Dilger

ANHANG-DETAILS James-Wilton-DRIFT©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Zwei Duos präsentierte Schrittmacher in Aachen: Zunächst „Drift“ zum E-Gitarrenlastigen Progressive-Rock von Nine Inch Nails und A Perfect Circle. Schwermütige Rauheit, liebeswunde Wut. Oliver Robertson und Laura Vanhulle stürzen einander in die Arme, reißen sich los – der Kompromiss genannt „Beziehung“ ist diesen starken Charakteren nicht gegeben. Sie drückt den Körper vom Boden weg, im Yoga wäre das eine „Brücke“ und hieße, das Herz zu öffnen. Er schmiegt den Kopf wie eine Katze an ihren Rücken, scheint sie stützen zu wollen. Nur ein paar Sekunden lang, dann kollabiert die gemeinsame Körperarchitektur. Er wendet sich ab, sie springt ihm mit einem Karatesprung in den Rücken. Beide ballen die Faust über Brust als krampfe ihnen das Herz im Leib. Der zeitlos gültige Schmerz über die Unmöglichkeit der Liebe.

Schon in diesem Stück ist es die Frau, die die Dynamik und Gefühlslage vorgibt. Das bleibt auch im zweiten Stück des Abends so: „The Four Seasons“ zur Komposition von Max Richter. Der hatte sich vor 10 Jahren vorgenommen, einen der berühmtesten Gassenhauer der Klassik neu hörbar zu machen: Antonio Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“, deren Zauber längst als Werbungs-, Fahrstuhl-, Warteschleifen-Soundteppich zertreten wurde. So erklingen Vivaldis musikalische Motive nur noch ganz von fern, sie werden gelooped, ihre Töne vervielfacht, zersplittert, verwirbelt. Doch natürlich ist auch diese Dekonstruktion längst von der Populärkultur kassiert worden: Wer die Blockbuster-Serie „Bridgerton“ gesehen hat, weiß, wo der Vivaldi-Richter nun die erotischen Frühlingsgefühle entfacht.

James-Wilton-Dance@TANZweb.org_Klaus-Dilger

James-Wilton-Dance@TANZweb.org_Klaus-Dilger

Analog zu den vier Jahreszeiten Frühling, Sommer, Herbst, Winter wollen die Choreograf:innen James Wilton und Sarah Jane Taylor nun die Geschichte des Universums erzählen: von der Singularität des Urknalls über Expansion, Abkühlung bis zum Hitzetod. Doch so viel Dramatik und Grauen gibt selbst Max Richters verfinsterter Vivaldi nicht her, schließlich zwitschern auch bei ihm noch ganz lieblich die Vöglein. So bleibt in der Choreografie eher der Eindruck, als knospe und explodiere immerzu die Natur. Wer hätte geahnt, dass es so viele unterschiedliche Arten gibt, einen Arm in die Luft zu räkeln? Ein ganzes Herbarium erwacht hier zum Leben, schlängelt sich aus den auf dem Boden liegenden Körpern in immer neuen Bewegungen. Später dann bauen Wilton und Taylor mit ihren Körpern die symmetrischen Architekturen von Kristallen nach. Dazu ein fantastisches Lichtdesign, in dem auch das Aufleuchten der Scheinwerfer choreografiert ist und Sonnen und Sterne glühen oder erkalten. Trotzdem findet man sich als Zuschauer in diesen meteologischen und kosmologischen Perioden nicht gut zurecht – ist jetzt schon Sommer oder noch Frühling? Zu sehr fällt die Choreografie immer wieder in vertraute Muster zurück.

Zum Klimakatastrophen-Mahner fühlt sich ‚James Wilton Dance‘ offenbar doch nicht berufen. Ihre Mission sind die Schönheit und die Lust am menschlichen Körper: wie schnell und wie sinnlich, wie zart und doch stark er sein kann. Ein Wunder der Natur, das es zu feiern gilt, gerade, wenn man sich vor Krisen kaum retten kann. Einen Tanzabend lang wieder versöhnt mit der Welt.

James-Wilton-Dance@TANZweb.org_Klaus-Dilger

James-Wilton-Dance@TANZweb.org_Klaus-Dilger