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Videoimpressionen “HOTEL BELLEVUE” der Cie. ARCOSM | F
aus dem Live-Stream vom 9.Juli 2021 aus den PARKSTAD THEATERS LIMBURG
Das Hotel mit der schönen Aussicht
Von Natalie Broschat
Ab der allerersten Minute ist klar, dass in „Hotel Bellevue“ eine Geschichte erzählt werden wird. Wenn nämlich ein Mann in weißem Leinenanzug die Bühne betritt, auf einem der beiden Sessel in der Hotellobby Platz nimmt und auf dem Couchtisch vor sich beginnt die Geschichte von Albert aufzuschreiben, die ebenfalls als Tondatei abgespielt wird. Albert arbeitet seit Langem im Hotel Bellevue, ist für alles zuständig und etwas grummelig. Wir sehen ihn, allein in der Hotelküche sitzend, groß auf eine Leinwand projiziert.
Dieser hell gekleidete Erzähler (Bertrand Guerry) berichtet weiter von den vier Gästen, die gerade im Hotel verweilen und die Zuschauenden erhalten einen Einblick über Video in die jeweiligen Zimmer. Die Menschen im Hotel Bellevue bleiben meist nur für eine Nacht, es ist ein Transitort. Nach und nach treten diese Figuren nun in der Lobby auf. Zuallererst natürlich Hotelinventar Albert (Thomas Guerry), er wischt und tut und macht und wuselt über die Bühne, in komödiantischer Bewegungspräzision. Die Anwältin (Fatou Malsert) bleibt ihrer Rolle entsprechend kühl-distanziert, trotz des bunten Businessoutfits, ihre Bewegungen sind überlegt und korrekt; die Witwe (Marion Peuta), freilich ganz in Schwarz gekleidet, schreitet mit traurigem Blick und langsamen, großen Schritten durch die Lobby; die quirlige Vagabundin (Margot Rubio) gießt die tot geglaubte Pflanze und versprüht Freude in jeder ihrer Bewegungen; ja und der Soldat (Rémi Leblanc-Messager) hat mit dem Nacken zu kämpfen und bewegt sich genauso steif und adrett wie seine Uniform aussieht. Sie alle tanzen nun durch die Lobby, bis sie nacheinander Schlange stehen zum Check-Out. Doch die Tür, der Ausgang, bleibt verschlossen, weil Alberts Einsamkeit ihn zu drastischen Maßnahmen verleitet und er kurzerhand den Türknauf entwendet hat. (Wie nachvollziehbar in Zeiten von Corona, in denen die Gesellschaft lange allein sein musste.) Es folgen hektische Bewegungen, akrobatischer Tanz, Slaptick, lautes Stimmengewirr.
„Hotel Bellevue“ (2021) für Menschen ab acht Jahren ist die neueste und zehnte Arbeit der französischen Compagnie Arcosm. Gegründet 2001 vom Musiker-Komponisten Camille Rocailleux und dem Tänzer-Choreografen Thomas Guerry, der seine Ausbildung in Lyon absolvierte. Triebfeder der Cie Arcosm ist eine unbändige Neugier und Spaß an Multidisziplinarität, wodurch sich wundervolle Welten auftun. In „Bounce!“ (2013) galt es beispielsweise einen riesigen Holzquader in der Mitte der Bühne tänzerisch zu überwinden und mit durchdringender Violinbegleitung wurden so der Versuch und das Scheitern erörtert. In ihrem ersten Stück „Echoa“ (2001) ließen sie Bewegung und Musik verschwimmen und fragten danach, wie Tanzende wohl klingen mögen.
In den Arbeiten der Cie Arcosm ist immer eine Narration sowie ein dramaturgischer Bogen auszumachen und die verschiedenen Künste sind sinnvoll zusammengefügt. In „Hotel Bellevue“ also Tanz als individueller Ausdruck der Figuren; das Bühnenbild (Olivier Clausse) als weitere Spiel- und Erzählinstanz; die aufgezeichneten Videosequenzen (Florian Martin) als Blick in andere Zeiten; die live vom Erzähler, dem Filmregisseur Bertrand Guerry, eingefangenen Kamera-Zooms auf Gesichter und um die Ecke als Detailansicht; und überhaupt die Theatermittel an sich als erzählerische Beiwerke (schnell in den Bühnenhimmel schießende Pflanzen und schöne Lichteffekte). Ebenso kommt in dieser Arbeit die Stimme zum Einsatz, ob von der Konserve wie zu Beginn oder direkt durch Textpassagen der Schauspielerin Fatou Malsert. Und eben diese absolut schlüssige Vereinigung der Disziplinen macht das Stück so stark.
Am Ende tanzt Albert mit der Witwe ihre Trauer davon (die dann geheilt in Weiß gekleidet ist) und das Hotel wird von der Natur zurückerobert. Vielleicht weil die hoffnungsvolle Vagabundin ständig die Pflanzen goss, oder aber als Wink auf ein generell drängendes Thema oder oder oder. Jedenfalls werden die Gäste ins projizierte Grün entlassen; und das Publikum blickt auf ein Hotel mit wirklich schöner Aussicht: es ist alles zugewachsen.