schrit_tmacher

justDANCE! 2023

EIN FAZIT

FÜNF WOCHEN, WIE IM FLUG…

sind sie vorbeigegangen: die schrit_tmacher justDANCE! Festival-Wochen 2023, doch sie hallen nach! Nicht nur bei den tausenden Zuschauerinnen und Zuschauern, die den Tanz wieder gefeiert haben. Nicht alles  und nicht jede Aufführung vielleicht, die in der EUREGIO -Rhein-Main, genauer gesagt in Aachen | D, Heerlen, Kerkrade | NL und Eupen | B, stattgefunden hat, aber ihre Gesamtheit, die in ihrer wortwörtlichen „Grenzüberschreitung“ ihre Einmaligkeit besitzt.

EIN ALLEINSTELLUNGSMERKMAL…

…das viel zu wenig im Bewusstsein der Politik verankert zu sein scheint, zumindest was die öffentlichen Institutionen auf Deutscher Seite betrifft: Wie anders könnte es sein, dass sich die Stadt Aachen nicht explizit mit diesem Festival schmückt, indem sie die Stadt mit Bannern beflaggt und mit grossen Postern oder auch digitaler Präsenz in Bussen, Bahnen und auf LED-Wänden sichtbar ins Bewusstsein der Bevölkerung und ihrer Gäste rückt? Vertane Chancen, die sich leicht korrigieren liessen.

Ganz anders die Partner in den Niederlanden und Belgien, die dieses Tanz-Fest(ival) fest in den Stadtbildern verankern und feiern.

Erinnert sei auch an die, letztlich Corona bedingt, abgebrochene Jubiläumsausgabe zum 25jährigen vor drei Jahren, als der Niederländische Premierminister Mark Rutte das Festival in Heerlen eröffnete, während sich nicht einmal eine Abteilungsleiterin des NRW Ministeriums für Wissenschaft und Kunst von Düsseldorf nach Aachen bemühte, die Heimatstadt der damaligen Ministerin.

GELEBTES EUROPA DURCH TANZKUNST…

… Dieser Eindruck und dieses Erlebnis vermittelt sich den Besucherinnen und Besuchern des Festivals, sobald sie mehr als nur eine einzelne Aufführung besuchen. So unterschiedlich auch die Orte sein mögen, an denen grenzüberschreitend diese Kunstform präsentiert und mehrsprachig vom zahlreichen Publikum diskutiert und besprochen wird, zusammen ergeben sie ein beinahe einzigartiges Bild und eine Ahnung davon, was Tanz bewegen könnte und hier oft auch kann.

WEITERE IMPRESSIONEN IN WORT, BILD UND FILM FINDEN SICH AUF DIESER PLATTFORM

TRAJAL HARRELL…

…im Ludwig Forum

… wurde zum Highlight der ersten Festivalwoche.

Seine vier, jeweils 20minütigen, Performances nahmen das zahlreich erschienene Publikum aller Altersstufen mit auf eine Reise, dorthin wo Tanz entsteht: im Innersten des Künstlers.

Wie in Trance evozierte Trajal Harrell in „Sister or He Buried The Body“ die fiktiven Erinnerungen an eine junge Frau, die sich prostituieren musste, um ihre Bestimmung als Tänzerin im damaligen Japan leben zu können.

Grossartig und zugleich die Rückkehr des schrit_tmacher Festivals an den Ort, wo das Festival vor 27 Jahren begonnen hatte.

TANZwebEUREGIO wird dem Künstler ein eigenes Portrait widmen.

Nanine Linnings „DOUBLE HELIX“…

..“Das Performanceprojekt von Nanine Linning und Designer/Videokünstler Bart Hess kombiniert bildende Kunst, Video, Liveperformance und interaktive Elemente, um die Auswirkungen biotechnologischer Entwicklungen in unserer Gesellschaft und in unserem Körper sowie die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine, Technologie und Philosophie zu erforschen. Das Resultat ist ein individuelles Gesamtkunstwerk, durch das das Publikum eine gute Stunde lang hindurchgeführt wird.“ so hiess es in der Ankündigung der designierten Leiterin des SCAPINO BALLET.

„Bringt „DOUBLE HELIX“ eine ganz neue Form ins Festival?“ fragten wir bei der Ankündigung. JEIN! lautet das Fazit

NEIN! Zumindest nach Ansicht des Rezensenten, der die Bilder der begeisternden BIENNALE DI VENEZIA des letzten Jahres zu eben diesem Thema, das bereits vor 24 Jahren in MATRIX überzeugend behandelt wurde, noch allzu präsent im Kopf hat. Auch von einer choreografischen Handschrift und Einfallsreichtum durch Tanz, war nichts zu sehen. Vielleicht durften auch deshalb keine journalistisch unabhängigen bewegten Bilder veröffentlicht werden?

JA! nach Ansicht der Besucher und unserer Kritikerin. Allein die Nutzung der phantastischen Fabrik Stahlbau Strang war zumindest bemerkenswert. Geschadet hat das Projekt dem Festival nicht. Das Publikum nahm Linnings‘ und Hess‘ Versuchsanordnung positiv und teils mit Begeisterung auf.

LOUISE LECAVALIER…

… noch ein Highlight des Festivals! Im wunderschönen Theater von Kerkrade | NL riss die Tanzikone das Publikum von den Sitzen.

Dass sie bei allem Erfolg eine bescheidene und hartarbeitende Künstlerin geblieben ist, durfte das Publikum im „after-talk“ zusammen mit Cathy Levy, vom National Arts Center of Canada erleben.

CANADA…

… Länderschwerpunkte seien zwar nicht von vorne herein geplant, liess uns Rick Takvorian, der künstlerische Leiter des Festivals, im Vorab-Portrait wissen, doch mit Marie Chouinard, die das Festival (eher enttäuschend) eröffnete, Crystal Pite, die mit ihren TEN DUETTS für das NDT und dem absoluten Höhepunkt des Festivals mit ihrer Compagnie Kidd Pivot und REVISOR gleich zwei Mal vertreten war, mit Naishi Wang, der in Berlin bereits gearbeitet hat, sowie mit Louise Lecavalier, die ebenfalls einen der Höhepunkte des Festivals darstellte, entstand ein solcher Schwerpunkt natürlich. Cathy Levy, Direktorin des National Arts Center of Canada, gab hierzu, zusammen mit Louise Lecavalier, einen Einblick in die kanadische Tanzszene…

…EUPEN

… der ALTE SCHLACHTHOF im hübschen belgischen Städtchen Eupen, ist ein wunderbarer Veranstaltungsort. Eupen schafft für das Festival seit mehreren Jahren die Schnittstelle zum zeitgenössischen Zirkus, die wir stets sehr gerne und wann immer möglich begleitet haben.

In dieser Festivalausgabe waren es drei verschiedene Produktionen, von denen wir zwei in unseren Nachtkritiken und Videoimpressonen festhalten durften.

PULS, BABY!…

.. Auf einer komplett leeren Bühne setzt der Choreograf seine Performer in einen Raum, der an sich keine Eigenschaften hat. Théron schafft diese erst, indem er seine Performer alle nur erdenklichen Konstruktionen, ganz im Sinn des aktiven Konstruierens, durchrechnen lässt. Vor dem Hintergrund einer Projektion, die ein Makro eines verdorrten Strauches sein könnte, dünne, kahle Halme, farblos, basteln die Vier eine räumliche Geometrie, deren anfängliche Reduziertheit im Prinzip in die Irre führt. Die schwarzen, unauffälligen Kostüme locken in die gleiche Richtung: Man stellt sich ein auf Düsternis, Schwere und große, tiefe Gefühle. Für die nötige Dramatik sorgt ein kaum erträgliches Wummern aus den Lautsprechern. Das ist aber nicht nur eine falsche Fährte. Die im Titel erfasste Auferstehung tut hier nämlich gar nicht Not. So tot die Zweige im Hintergrund auch wirken mögen, auf der Bühne pulsiert das Leben. Und das im Wortsinn: Es dauert nicht lange, bis ein gleichmäßiger Herzschlag einsetzt, ein regelmäßiges Pulsieren aus den Boxen, das die Zuschauertribüne vibrieren lässt. Und dieser Puls wird bis zum Schluss nicht aussetzen. Ganz im Gegenteil…. meinte Rico Stehfest in seiner Nachtkritik

ROBYN ORLIN

Viel Farbe brachte Robyn Orlin mit ihrem „We wear our wheels with pride and slap your streets with color … we said ’bonjour’ to satan in 1820“ in das Festival.

Auszug aus Thomas Linden’s Nachtkritik:

Für ihr Gastspiel auf dem schrit_tmacher Festival in Kerkrade hatte sich die südafrikanische Choreographin Robyn Orlin eine Produktion mit einem besonders langen Titel gewählt: „We wear our wheels with pride and slap your streets with color … we said ’bonjour‘ to satan in 1820“. In diesem Satz ist ein Hinweis auf den historischen Hintergrund der Choreographie enthalten, die das Publikum in Kerkrade letztlich von den Stühlen riss.

Orlin bezieht sich auf die Epoche nach den napoleonischen Kriegen, als in England eine große Arbeitslosigkeit herrschte und aufgrund einer ersten Klimakatastrophe verstärkt Europäer in Südafrika angesiedelt wurden. Die Tragödie der Kolonisierung begann, deren gesellschaftliche Resonanz wir in unseren Tagen zu spüren bekommen. Orlin führt den Diskurs aber nicht mit der Waffe in der Hand. Ihre Choreographie zeigt sich vielmehr von einer Beobachtung aus ihrer Kindheit inspiriert. Damals sah sie in Durban, wie die jungen schwarzen Zulus ihre Rikschas mit den weißen Fahrgästen durch die Stadt kutschierten. Gekleidet mit Kopfschmuck aus Federn und Hörnern zogen sie die zweirädrigen Gefährte über die Straßen und schienen dabei auf elegante Weise abzuheben und davon zu fliegen. Die eigentlich demütigende Beschäftigung verwandelten sie in eine von Würde getragene Arbeit, die Haltung demonstrierte. Und Haltung ist das Sujet, das Robyn Orlin als Choreographin interessiert.

Pite’s „REVISOR“ – ein getanzter Geniestreich

Crystal Pite | Kidd Pivot zeigen ihn im Theater Heerlen

von Thomas Linden

Wenn es auf der Bühne um Russland geht, stellt sich die Verbindung zum aktuellen Krieg zwangsläufig her. So ist es auch angesichts des Gastspiels, das die aus Vancouver stammende Kompanie Kidd Pivot mit ihrer Produktion „Revisor“ im Theater Heerlen präsentierte. Dabei waren Autor Jonathan Young und Crystal Pite, die als Choreographin auch beim Nederlands Dans Theater arbeitet, schon 2020 mit dieser Arbeit zum Festival schrit_tmacher in die Euregio eingeladen worden…

…Dass Crystal Pite und Jonathan Young einen Blick für die psychologische Mechanik dieses Stücks entwickeln, das beständig zwischen Theater und Tanz changiert, erweist sich auch deshalb als Geniestreich, weil uns Gogol eine Lektion in Sachen Identität erteilt. Identität ist eben in wesentlichen Teilen eine Zuschreibung von außen. Die Erwartung bestimmt die Definition des Anderen. Gegen Ende zeigt Crystal Pite den vermeintlichen Revisor als schlaffe Körperhülle. Aber auch das Personal des Städtchens agiert wie ein Ensemble von Puppen, deren Gelenke von einer unsichtbaren Macht in Funktion gesetzt werden. Belebt wird dieses anderthalbstündige Meisterwerk der Tanzkunst durch ein Timing, das schlichtweg atemberaubend ist. Hier sitzt jede Geste, jede Drehung, jeder Augenaufschlag. Eine Tanzmaschine, die ihrem Publikum geradezu verschwenderisch Erkenntnis und Genuss bietet.

ENTDECKUNGEN…

…versprach das Festival ebenfalls, wie etwa die Beaver Dam Compagnie aus der Schweiz und deren Choreografen Edouard Hue, der ja ein wichtiger Tänzer bei Hofesh Shechter war, oder REDO&DOMINIQUE featureing BINKBEATS, mit ihrer spannenden Crossover Performance „A New Dawn“ …

Wer rettet wen? Wovor? Und wie? Mit Tanz?

Das Schrittmacher-Festival 2023 beendete ein Gastspiel des NDT2 mit dem Programm „Climb the sky!“ im Theater Heerlen

von Melanie Suchy

Das bekannte Stück von Crystal Pite in den Dreierabend des NDT2 zu packen, „Ten Duets on a Theme of Rescue“, gab ihm, der im März 2022 Premiere feierte, einen geheimen zweiten Übertitel. „Climb the sky!“ heißt die Zusammenstellung offiziell. Den Himmel zu erklettern wird dann zu einer Rettung. Oder zur Hoffnung auf eine Errettung.

Das Klettern als Streben nach oben wird erkennbar in der letzten Choreographie des Abends, dem von Johan Inger 2002 fürs NDT2 geschaffenen „Out of Breath“ für sechs Tänzerinnen und Tänzer. „Atemlosigkeit“ bezeichnet hier nicht wahnwitzig schnellen oder kraftraubenden Ballettsport, sondern eine Anspannung: vor Angst die Luft anzuhalten oder keine Luft mehr zu bekommen. Doch nicht viele Momente in dem Stück lassen das spüren. Es scheint sich unfreiwillig zu verläppern, etwa wenn Tänzer um das kurvige Rampen-Objekt von Mylla Ek auf der Bühne herumjoggen oder dahinter laufen und wieder auftauchen, erst nur der Kopf, dann der Oberkörper sichtbar, schließlich ein ganzer Mensch.

Das Ding selber mutet wie betongewordenes Versinken an, mit einer Schräge und einer Klippe, aber erinnert auch an Fußgängerzonenaufhübscharchitektur. Es dient als Mauer, wenn Tänzer den Rücken an sie lehnen, mit den Händen dran hauen oder ein Tänzer die Kollegin hebt und waagerecht dran laufen lässt. Einmal steht Demi Bawon einfach nur vor der Steilwand, während andere sich tummeln. Sie scheint etwas zu erwarten, zu befürchten. Auge in Auge mit etwas, das keine Augen hat, vielleicht Schicksal…. Melanie Suchy, unsere Kritikerin, hatte viele Fragen…

GENERATION2…

Finale mit einer Tanzshow für die nächsten Generationen

von Klaus Dilger

Jennifer Romen stellt mit ihrer neuesten Tanzshow, „Delusion“,  ihre künstlerische Vision und die Beherrschung der Tanzkunst ihrer Company unter Beweis und begeistert ein mehrere Generationen umfassende Tanzpublikum im restlos ausverkauften Parkstad Limburg Theater in Kerkrade, das die Company, wie so oft bei diesem Festival, mit stehenden Ovationen feierte….

Der Mut der Veranstalter, mit einer Tanz-Show (der Ausdruck sei hier erlaubt) das Festival zu beenden, wurde belohnt. Dass dabei eine klare Öffnung zum jüngeren Publikum vollzogen wurde, mag sich in naher Zukunft hoffentlich ebenfalls als kluger Schritt erweisen.

Wir sehen uns in 2024 wieder!

credits

Beiträge von:

Natalie Broschat

Melanie Suchy

Nicole Strecker

Rico Stehfest

Thomas Linden

Kamera: Klaus Dilger

Editing und Gestaltung: DANSEmedia | berlin

Bildnachweise:

Seite 1, 4, 5, 7. 10, 11, 13, 15, 17, 19, 23 und 29 -©Klaus Dilger

Seite 8: Trajel Harrell ©Orpheas-Emirzas

Seite 20, 25, 31 © Rahi Rezvani

Seite 27 ©Joris-Jan Bos

WIR SEHEN UNS IN 2024 WIEDER!