Glänzendes Finale in der Fabrik Heeder Krefeld

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CocoonDance beschließt mit „Standard“ das Festival „Move!“

Nachtkritik von Bettina Trouwborst

Tiere? Menschen? Und wenn ja: Frauen oder Männer? Die sechs Wesen, die da über den spiegelnden Tanzboden gleiten und krabbeln, sind reine Kunstkörper. Am ehesten noch eine Kreuzung aus Insekt und Amphibie – oder Reptil? Nach einer anfänglichen Metamorphose vom Menschen, der – eine Hand auf der Brust, die andere auf dem Bauch – bei seiner wellenartigen Bewegung noch von Ferne an standardisierten Tanz erinnert, fällt der Körper nach vorne und wird zum nie gesehenen Kunstwesen.

„Standard“ lautet der Titel dieser faszinierenden Arbeit von CocoonDance. Dabei gibt es kaum einen Begriff, der auf den ersten Blick weniger auf diese entrückte Welt zuträfe. Er bezieht sich auf den Gesellschaftstanz. Ein Phänomen, das über Jahrhunderte den Zustand einer Gesellschaft modellhaft spiegelt. Ein Code, bei dem Paare in aufrechter Haltung würdevoll und diszipliniert in berechenbaren Schritten und Drehungen, mehr oder weniger erotisch aufgeladen, miteinander umgehen. Aufgefasst als reines Körperkonzept, hat die Choreografin Rafaële Giovanola seine Einzelteile dekonstruiert und in eine eigene Tanzform transformiert, um die tradierten Körperbilder zu überwinden und ist im Vierfüßler angekommen: Sie hat einen völlig neuen Körper, ja ein neues Wesen erschaffen, das ein wenig an Xavier Le Roys Kopffüßler von einst erinnert. Und sie hat ihm ein ganz eigenes,  staunenswertes Bewegungsvokabular gegeben.

Schon in dem Frauenstück „Vis motrix“ – übrigens 2018 in der Fabrik Heeder zu Gast – kreierte die Choreografin Rafaële Giovanola eine neuartige Tanzsprache, bei der man sich die Augen rieb. Spinnenartig krabbelten und kreuchten sechs Tänzerinnen über die Bühne, bildeten Formationen von gebrochenen Geometrien, veränderten blitzartig ihre Richtung. Ein Schwarm von weiblichen Körpern in hautengen schwarzen Trikots, der mit großer Geschmeidigkeit, aber auch bedrohlichen Attacken das Publikum in seinen Bann zog. Dabei überzeugte „Vis motrix“ noch stärker als jetzt „Standard“ mit einer spannungsreicheren Dramaturgie und noch reizvolleren Ästhetik.

CocoonDance_Standard@TANZweb.org_Klaus Dilger

CocoonDance_Standard@TANZweb.org_Klaus Dilger

Beide Arbeiten sind entstanden auf der Suche nach neuen Bewegungsformen. CocoonDance hat sich mit seinen Recherchen über den „ungedachten Körper“ der ästhetischen Abstraktion verschrieben. Ein geradezu philosophischer Ansatz. Dabei sind bislang starke Werke entstanden. Die Qualität des international erfolgreichen Ensembles um Giovanola und den Dramaturgen Rainald Endrass hat vor allem zu tun mit einem intellektuellen Überbau, der auch auf Forschungsergebnissen beruht. Diesmal haben die beiden die Expertisen der Weltmeister im Kür-Standardtanz, Yulia und Paul Lorenz, eingeholt, die auch bei den TV-Formaten Let’s Dance und Dancing with the Stars dabei waren.

Erstaunlicherweise führt der zivilisierteste aller Tänze in die Natur. Die engen, silbernen, schwarzen und dunkelblauen Hosen glänzen wie Reptilienhaut. Die bloßen Oberkörper sind gemustert durch farbige Tape-Streifen. Die drei Tänzerinnen und drei Tänzer durchleben einen Prozess, angetrieben von einer stark rhythmisierenden Soundcollage. In überraschenden Variationen und Konstellationen durchkreuzen und durchqueren sie den Raum, halten inne. Blicken durch die geöffneten Beine ins Publikum. Ihr Repertoire, ein Mix aus Ballett, Standardtanz, zeitgenössischem Tanz und Yoga, ist beeindruckend. Die Vierfüßler bewegen sich in einer Art Grundschritt fort: Mit einem Handrücken schleifen sie diagonal und fast in Zeitlupe über den Boden und ziehen die anderen Extremitäten nach – ein harmonischer Bewegungsfluss. Es gibt Akzente wie das Verharren auf halber Spitze. Oder das Heben einer Ferse Richtung Oberschenkel. Andere ahmen es nach, es entwickelt sich ein Dialog, dann ein „Gruppengespräch“. Plötzlich reagieren alle voller Unruhe auf einen akustischen Impuls – als käme ein Unwetter auf – und krabbeln durcheinander. Überhaupt meint man, ein Biotop auf spiegelnder Wasseroberfläche zu betrachten. Schön, aber mitunter auch langatmig.

Am Ende hat diese Kunst-Spezies ihren eigenen Gesellschaftstanz entwickelt, erneut ein Paartanz: Zwei vierfüßige Wesen stehen einander gegenüber, legen die Köpfe quasi mit den Ohren aneinander und lehnen sie gegen die Schulter des anderen – voilà der Achtfüßler. Ein Modell für die Tanzschule ist das nicht. Aber eine tolle Utopie.

CocoonDance_Standard@TANZweb.org_Klaus-Dilger

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