Festival umPolen

Maciej Kuźmiński mit „Every Minute Motherland“

Land ohne Zeit, Leben ohne Land

von Melanie Suchy

Beim Festival umPolen im Theater im Pumpenhaus gastierte der polnische Choreograph Maciej Kuźmiński mit seiner Company, in die er ukrainische Tänzerinnen aufgenommen hat. „Every Minute Motherland“ ist das Stück des Jahres

Der Tanz hier ist ein Lebenszeichen, eines, das nicht selbstverständlich ist. Oder doch: die Selbstverständlichkeit aufzutreten, miteinander den Raum zu besetzen und ihn aufzurühren, wird hier behauptet. Und als kostbar gezeigt. Lange stehen die sieben Tänzerinnen und Tänzer zu Beginn einfach nur am Rand des weiß ausgelegten Tanzspielfeldes und schauen von außerhalb hinein und zum Publikum. Diese Bühne ist die Zeit und der Ort für die  „Minuten“ und das „Mutterland“ des Titels.

Mit Betreten des Platzes durchfurchen ihn die Tänzer aufs heftigste. In Companyformation, unisono, schreiten und wenden, strecken, ziehen, schneiden, beugen sie sich im wahnwitzigen Tempo, vereinen Schärfe mit Geschmeidigkeit, stets die Balance wahrend, nah am Fallen, und daraus holen sie den nächsten Schwung ins Aufrechte und darüber hinaus und drum herum. Beine, Arme, Oberkörper, alles fliegt nach oben und unten und rotiert kontrolliert. Es ist keine sich einpendelnde Tanzlust, eher eine Tanzwut, ein Verausgaben, aber mit Form, sozusagen mit Sprache, Geist oder Würde.

Dieses Vorantreiben begleitet Musik; die vereinzelten, nachhallenden Klaviertöne scheinen von einer anderen Welt zu künden. Unter den Aufgewühlten auf der Bühne bleibt zuweilen ein Einzelner stehen, ist einfach still im Sturm. Hört etwas? Wartet? Reiht sich wieder ein. Manchmal stehen zwei, eine bleibt, eine andere stellt sich hin. Ganz unvermittelt entstehen so sichtbare Lücken in der Gruppendynamik, wie Mahnungen. Sie betonen die Rastlosigkeit umso stärker. Als plötzlich alle stehen, wird ihr Atem hörbar. Die Musik verstummt. Der Tanz geht weiter.

Nach dem Furioso wird das Stück etwas ruhiger, nicht entspannter. Tänzer liegen. Sie bäumen sich auf, rollen anfallsartig, knien, schlagen aus. Sie liegen lange, auf dem Bauch oder seitlich eingerollt. Schlaf, Pause auf dem Land, Schlaflosigkeit, Trauer und Tod deutet Kuźmiński hier an, ohne die Verzweiflung je dramatisch oder zu eindeutig auszuspielen. Hinter einer Liegenden sitzt eine andere und schaut ihr über die Schulter zu. Die anderen, draußen, sind stille Wächter im Stehen. Die Vereinzelte drückt sich wie zähe Materie vom Boden hoch, baut sich auf zwei breite Beine, zieht jede Faser ihres Körpers in die Länge in Bögen, die Arme raffen etwas heran, das nie sättigt, etwas fehlt, den Bauch drückt sie fast aus sich heraus. Sie kämpft; gegen was, wird nicht ausgesprochen. Sie hat Power, sie überlebt.

Das Licht zieht sich stellenweise zurück und hinterlässt Dunkelheit, oder es richtet sich nur auf eine Person, eine Frau, deren Gesicht es als Ikone leuchten lässt, ein ernster Blick. Oder auf einen Mann, der dann nach vorn in den Schatten tritt und die hinter ihm Stehende im Licht alleine lässt. Oder es wird nachtbleich, und die Tänzer, die gebückt eilen, erwehren sich einer Kelleratmosphäre. Als alles wieder hell wird, ist ein neuer Tag, aber nichts ist vorbei, oder hier beginnt ein Traum.

So wie Monika Witkowska einen Fuß vor den anderen setzt auf der Mittellinie des weißen Feldes, auf weichen, leisen Sohlen, scheint sie eine eigene Zeit einzuführen. Die Minuten zu dehnen. Sie nähert sich zwei Liegenden. Später wiederholt sich das Bild. Die Art, den Ort zu beleben wird zur Erinnerung, wie etwas Hergeholtes, ganz anders als das drängende oder getriebene Stürmen zu Beginn oder die stampfende und hautklatschende Gruppenselbstvergewisserung einer anderen Szene. 

So wie aus den Lautsprechern zwischendurch ein schönes ukrainisches Volkslied ertönt, erst eine Sängerin, dann ein Frauenchor dazu und Instrumente, geraten Volkstanzelemente in die Choreographie. Hände heben sich, wenden ihre Flächen nach oben und unten, vorne, an den  Brustkorb, an die zweite Hand; aber auch vor Münder, neben Ohren und ganz hoch in die Luft. 

Hier!

Zuletzt treten die Tänzerinnen fast auf der Stelle, auf und ab, Ferse, Ballen. Das ist kein Tanzen mehr, eher ein Überdauern im Sekundentakt. Ob und wann daraus wieder eine Schwungkraft wird, bleibt die Frage.

Wer tanzt, hat noch Hoffnung oder kämpft darum, welche zu haben. 

Noch dauert der Krieg an. „Every Minute Motherland“, das Ende August in Łódź Premiere feierte und kürzlich in Luxemburg gastierte und dem ein langes Leben zu wünschen ist und viele weitere Aufführungen, hat laut Programmzettel die Situation in der Ukraine und diejenige der von dort nach Polen geflohenen Frauen zum Thema. Kuźmiński hat es gemeinsam mit den emigrierten Tänzerinnen Anastasia Ivanova, Daria Koval, Anna Mysloslavska und Vitaliia Vaskiv erarbeitet. Die Choreographie vermeidet klare Schilderungen und Dramatik, sondern setzt auf die Klugheit sensiblen und vielgestaltigen Tanzes, auf die großartig aufeinander eingestimmte Gruppe und die Fähigkeit des Publikums hinzuschauen und jede Minute mitzufühlen.  

Hier folgt später ein Kurzbericht zu dem Panelgespräch im Anschluss an die erwähnte Aufführung: über die Produktion und über Kulturpolitik in Polen.