Larsen C
Im Krebsgang
Der griechische Choreograf und Experte für vegane Dramatik, Christos Papadopoulos, ist am 8. und 9. November zu Gast im tanzhaus NRW
Von Arnd Wesemann
Was für eine Katastrophe. Als im Juli 2017 in der Antarktis eine riesige Eisplatte abbrach, ein Achtel des Eisschelfs Larsen C, entstand nicht nur einer der größten bislang beobachteten Eisberge. Der Abbruch bedeutete auch ein Fanal des Klimawandels, obwohl schon längst zuvor gewaltige Mengen der in der Antarktis gebundenen Eismassen ins Meer getrieben waren: Larsen A verschwand 1995, Larsen B verschwand im Jahr 2002. Der Medienrummel fiel bei Larsen C noch dramatischer aus. Zwar galt zuvor das offenbar durch Haarspray verursachte Ozon-Loch als besonders aufregende Ursache, doch der Abbruch von Larsen C vor fünf Jahren war die Eisberg gewordene Manifestation des Klimawandels schlechthin.
Wer nun mit diesem Wissen oder auch nur diesem Bild vor Augen ein Stück namens „Larsen C“ besucht, eine in Griechenland produzierte Choreografie von Christos Papadopoulos, kommt erst mal nicht umhin, sich die unglaubliche Kraft dessen vor Augen zu führen, was gutes Theater-Marketing heute kann: Sie wählt einen Aufreger als Titel, auf den nichts, rein gar nichts an Inhalt folgt. „Hamlet“ ohne Hamlet oder „King Lear“ ohne Lear ist eben so modern, wie „Warten auf Godot“ ohne Godot immer schon eine ausgemachte Sache war. Die nächst höhere Steigerung ist der Name einer Katastrophe, ohne dass irgendetwas aus ihr folgt. So realistisch muss man das sehen.
Wir sehen am Anfang nichts, hören auch nichts – eine optimal-tiefgründige Einführung, die sich so nur die Tanzwelt vorbehält. Nichts soll zu erwarten sein, wenn im dünnen Scheinwerferlicht ein nackter Rücken erscheint, bald ein Rücken im Anzug, danach ein Lederrücken. Und endlich ein Solist in ein Licht tritt, das allein seine Arme beleuchtet. Dazu lässt Giorgos Poulios, der Komponist, akustisch Wasser fließen. Man denkt: schmelzendes Schelfeis. Man denkt, im Onassis Stegi, dem produzierenden Theater in Athen, das seinem Publikum an jedem ausverkauften Sitz ein Tetrapak mit Wasser bereit stellt: Es sollte doch besser ein Becher mit schmelzendem Eiswürfel anbieten.
Da nun aber beginnen sich tatsächlich die Beine des Solisten zu rühren, ausgeblendet vom Licht der Designerin Eliza Alexandropoulou. Der Tänzer scheint auf dem Tanzboden zu schlittern, hebt seine unsichtbaren Füße nicht, gleitet wie auf Eis. Dazu kommen ein paar störende Geräusche, die durch seinen Körper schießen, seinen Kopf herumwerfen, seine Brust durchbohren, seinen Schritt behindern. Wir sind jetzt sehr nah bei ihm. Man wähnt sich in der schmelzenden Antarktis bei Nacht, und wieder sehen wir einen Rücken, und noch vier Rücken, die sich gleich paarweise sortieren, und wieder schickt Giorgos Poulios diese sonderbaren Geräusche in sein schmelzendes Glucksen. Aber jetzt, wo die drei Paare sich gefunden haben und buchstäblich im Krebsgang mit sich selbst beschäftigt sind, geht kein einziger Ruck mehr durch ihre Körper.
Ungefähr hier verabschiedet sich der Choreograf Christos Papadopoulos von seinem Titel, von seiner Idee, von seinem Stück, das im März 2022 entstand und weltrekordverdächtig so viele Koproduzenten aufweist, das in kürzester Zeit ein atemberaubendes Touring von Frankreich über Rom, Madrid und Brüssel entstehen konnte, und das nun auch in Düsseldorf zu sehen sein wird.
Was kommt? Es kommen weit geöffnete Armscheren, Arme wie Wasserrohre, nein, vergesst es, keine Eis- und Wasserassoziationen mehr, kein Krebse, keine Pinguine, nichts. Ein pflanzlicher Korpus entsteht – eine vegane Gruppe, die sich wie Seeanemonen in der Strömung oder wie Schilf im Wind bewegt. Das Licht wird ein wenig heller, die Musik ein wenig wacher – und schon sind wir mitten im Wettbewerb um die schönste Gruppenchoreografie eng aneinander gepflanzter Tänzer:innen, die so tanzen, wie es seit Jahren bereits Sharon Eyal und Gai Behar aus Israel zur Musik von Ori Lichtik viel besser vormachen, dies auch ungleich dramatischer, komplexer, furioser hinbekommen, als Christos Papadopoulos zur geradezu kleinlauten Komposition von Giorgos Poulios. Es ist, ab hier, eine dekorative, in apart schwarz-glänzenden Kostümen von Angelos Mentis gekleidete Gruppenscharade, die den Blick schweifen lässt über eine anti-antarktische Landschaft in einem Sturm aus Bässen und schiefer Orgeldramatik. Choreografisch werden Schwärme im Stil einer biomechanischen Moderne gebildet, man denkt an höchst dekorative Stillleben mit sesshaften Bewohnern eines Korallenriffs, die im Strom des Zeitgeists sich selber feiern. Alles perlt am eigenen Auge ab, bis … bis es geblendet wird.
Eine Nebelschwadenwolke zieht auf, den Zuschauern entgegen, und ein Tanzpaar im Gegenlicht wirft einen gigantischen Schatten über das Publikum hinweg. Nur die Hände tauchen durch die Wolke hindurch, wie Einzelteile, wie nicht mehr mit dem Körper verbunden. Hier wird die Seele wieder wach, wenn man gegen das Licht blinzelnd solche Körper sieht, die ihre nicht mehr sichtbaren Köpfe buchstäblich in den Himmel stecken. Nur der Rumpf steht noch, während die Augen der Tanzenden durch den Horizont zu sehen scheinen. In diesem Finale steckt Kraft. Sie kulminiert in einem Tanz des Nebels, der im Licht schwarze Schatten wirft, Schlieren, die wie die Tinte eines Oktopus wirken und für Momente an den Science-Fiction-Film „Arrival“ von Denis Villeneuve mit seinen außerirdischen Heptapoden in der Hauptrolle erinnern, die dereinst mit Tinte geheimnisvolle Botschaften in den Nebel malten, und einen ganzen Film lang entziffert wurden.
So weit geht Papadopoulos nicht – aber hier entkommt er, mit kopflosen Folkloretänzen im Finale, diesem irritierend-mutwillig die falsche Fährte legenden Anfang und dem unvermeidlichen Vergleich mit Eyal/Behar und findet, in den allerletzten zehn Minuten, zu einer eigenen Handschrift. Für diese letzten zehn Minuten lohnt sich der Applaus.