MOVE! in town Uraufführung
Morbid-poetisches Sommermärchen
„Lasst uns zurück ins Schwimmbad gehen.“ Heißt es im Programm der Kompanie merighi/mercy aus Wuppertal.
von Martina Burandt
Ein verlorener Platz, voll von alten Erinnerungen, inmitten der Innenstadt von Krefeld ist die Spielfläche für ihre Tanzperformance „Zwischenwelten“. Das Freibad-Gelände des alten Schwimmbads wartet bereits seit Jahren auf neue Nutzung und wird dabei immer mehr von den Zeichen der Zeit wie der Eroberung durch die Natur eingeholt und verändert.
Durch diesen Ort bewegen sich zwei Männer und eine Frau in einer ungewöhnlichen Sommerabendstunde durch sich ständig verändernde Innen- und Außenwelten und verzaubern das traditionsreiche Stadtbad zu einem Ort voller Überraschungen und traumartiger Bilder.
Im Hinterhof des alten Gebäudes hockt ein Tänzer, eingehüllt in seine schwarze Lederjacke, unter einem verblühenden Schmetterlingsflieder. Würden seine gelben Socken unter dem weiten Plisseerock nicht herausschauen, fiele er in dem von Publikum bevölkerten Hof garnicht auf. Plötzlich erhebt er sich, läuft auf die nahe Bühne und spielt mit einer E-Gitarre einen Rhythmus ein. Vor der Bühne wächst ein Baum aus dem Asphalt, im Hintergrund zwei große bauchige Tanks, die in wechselnden Farben erleuchten und ihr, von Ablagerungen gezeichnetes Innenleben, wie eine phantastische Landschaft preisgeben.
In einer Klangschleife geht der Gitarrenrhythmus weiter, zu dem der traumversunkene Tänzer (Kenji Shinohe) leise ein Lied singt. Zusammen mit einem weitern Tänzer (Julio Cesar Iglesias Ungo) und einer Tänzerin (Narumi Saso) bewegt er sich schließlich Richtung Freibad. Das Publikum folgt still. Kraftvoll drehend wie ein Derwisch und laut über den Asphalt schlurfend, vollziehen sich die Bewegungen von Iglesias Ungo Richtung einer vom Pflaster befreiten Terrassenfläche. Aufgefüllt mit Sand wirkt sie wie ein Strand. An der rissigen Außenwand des Gebäudes daneben klettert und hängt die zarte Narumi Saso wie eine Spinne. Mit entrücktem Puppenaugen-starren Blick verschwindet Kenji Shinohe zwischen den Bäumen und Büschen, die hinter dem alten Schwimmbassin die ehemalige Liegewiese erobert haben. Durch das algengrüne, spakige Wasser schimmern kleine Fische, Seerosen-Blätter ruhen auf der Oberfläche, Moos bedeckt die Beckenränder. Über allen Bildern liegt der sphärische Sound einer Klangcollage (J-Lawton aka Julio Iglesias Ungo).
Hierhin und dorthin wandern die Blicke des Publikums, denn in der märchenhaften Kulisse des verlassenen Freibads gehen die Aktionen der drei Akteur*innen immer wieder auseinander und zusammen. Oft passieren unterschiedliche Dinge gleichzeitig an verschiedenen Orten, mal alle einzeln, mal zu zu zweit, dann wieder alle drei am selben Ort. Immer wieder zeigt das Trio gestenhafte Bewegungen mit den Händen, rätselhafte Zeichensprache, sucht sich Wege mit ausholenden Armbewegungen oder leise und fokussiert durch die Zuschauenden. Man sucht, findet und verliert sich wieder. Man kämpft, ruft, trägt sich und fällt. Man schippert sich in einem alten Kahn durch das Leben.
Kenji Shinohe kann kaum aufhören, die jungen Bäume auf die nicht enden wollenden Zurufe von Narumi Saso zu schütteln. Im Sand dreht sich Julio Cesar Iglesias wirbelnd weiter. Und während später Shinohe mit einer großen Gießkanne gießt und gießt, umträufeln sich die beiden anderen wie Unfallopfer mit Wassertropfen auf den grauen Pflastersteinen. Auf einmal erscheint Shinohe nackt am Beckenrand. Vorsichtig fischt er ein hell durchscheinendes Kleid aus dem Wasser und streift es sich langsam über. Ein Operngesang setzt ein und dazu ein berührender Tanz an der Beckenkante entlang.
Die Intention des künstlerischen Konzepts von Pascal Merighi und Thusnelda Mercy, in Zusammenarbeit mit den drei Tänzer*innen, ist offensichtlich. Klimawandel, Corona Pandemie und der nahe Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine haben vielen Menschen noch mehr Flexibilität in ihrer Lebensführung und -betrachtung abverlangt, als das Leben uns dies ohnehin zumutet. Noch haben wir für die großen Probleme keine dauerhaften Lösungen gefunden. Wir bewegen uns dazwischen. Manche finden individuelle Strategien, manche verzweifeln an den nicht mehr zu vertuschenden Realitäten unserer Lebenswelt. Mehr denn je zeigt sich das Leben als ein hochsensibles und brüchiges Gebilde, das wir Menschen mehr schätzen lernen sollten.
„Zwischenwelten“ in der Choreographie von Pascal Merighi entführt uns, mit diesen Gedanken im Hintergrund, in ein morbid-poetisches Sommermärchen aus Licht, Klang, Wasser, Sand, Bewegung und Seelenkörpern – Leben eben.
Alles innerhalb des Formats „Move! in town“, gefördert durch das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW