Der Betrachter erhält keine Absolution…
Sündiges Licht
Premiere des Polnischen Tanztheaters und “Bodytalk” mit “24/7 New Sins” in Poznan markiert die vierte erfolgreiche Zusammenarbeit
Rezension von Barbara Kowalewska (Portal Kultura u Podstaw)
Am 23. April 2024 wurde die Bühne des Polnischen Tanztheaters für einen Moment zu einer “Theaterkanzel”, von der aus die Sünden der modernen Welt aufgezeigt wurden. Und der Zuschauer erhält keine Absolution.
Dies ist eine weitere Premiere des Polnischen Tanztheaters – im Rahmen der Jubiläumsfeierlichkeiten -, dieses Mal passend zum Thema des diesjährigen Idioms: “Mensch – Objekt” und der Diskurs über die Objektivierung des Menschen heute. Der Titel der Aufführung, 24/7 New Sins (Choreographie und Regie: Yoshiko Waki, Dramaturgie: Rolf Baumgart), weckt einerseits Assoziationen zum Katechismus der katholischen Kirche, andererseits bezieht er sich auf die Abkürzung “24/7′, die heute in der Geschäftswelt häufig verwendet wird und bedeutet, dass eine Dienstleistung ohne Unterbrechung erbracht wird. Der Begriff erscheint auch im Titel des Buches von Jonathan Crary: “24/7: Late Capitalism and the Ends of Sleep”, in dem der Autor das moderne Wirtschaftssystem kritisiert, das sich unsere Zeit aneignen will, indem es uns unter anderem das Recht auf Schlaf nimmt “und die nutzlosen Minuten, die wir dem Nachdenken und der Kontemplation widmen, eliminiert”. Von welchem ’24/7′ und welchen neuen Sünden wollten uns die Macher der Premierenshow erzählen?
Kontrollierte Körper
Die Tänzer bringen ihre natürlichen, aber übertriebenen Rollen des “täglichen Lebens” auf die Bühne. Sie nehmen sich mit Handys auf und werben für sich als vorbildliche “Dancefluencer” oder “Infludancer” (“wir sehen gut aus, wir kontrollieren unsere Körper”). Dieses offensichtliche Wortspiel, das auf die Influencer von heute anspielt, mag wie eine langweilige Wiederholung der Warnungen vor zwanghaftem Eintauchen in die sozialen Medien und der Vermarktung der Körper wirken. Allerdings sollte man aus der Tatsache, dass etwas allgemein bekannt ist, nicht schließen, dass es nicht mehr diskussionswürdig ist. Gewohnheit schwächt die Wachsamkeit und hemmt den Handlungsimpuls. Wenn wir noch nicht besorgt genug sind, sei daran erinnert, dass ein Bericht der Stiftung Inspiring Girls Poland, der die Berufswünsche von Mädchen in Polen untersuchte, besorgniserregende Ergebnisse lieferte: Rund 46 Prozent von ihnen wollen in Zukunft Youtuber, Instagrammer oder Tiktoker werden (unterstützt von 12 Prozent ihrer Mütter). Vor diesem Hintergrund wird ein szenischer Blick auf ein scheinbar müdes Thema zu einem dringenden Bedürfnis.
Das Objekt als Quelle der Emotionen
Der zeitgenössische Fetisch, das Smartphone, ein Objekt der Begierde und eines der Symbole des Spätkapitalismus, ohne das sich viele das Glück nicht vorstellen können, ermöglicht es jedoch nicht, diesen Zustand zu erreichen, denn, wie Zygmunt Bauman schrieb, “der Markt nährt sich von dem Gefühl des Unglücks, das er selbst erzeugt”. Während im Alltag Mobiltelefone oft Werkzeuge sind, die das persönliche Leben theatralisieren, ist es im Stück genau umgekehrt – Handys werden zu Theaterrequisiten. Anhand der Aktivitäten in den sozialen Medien kann man das ständige und unbefriedigte Bedürfnis nach Aufmerksamkeit erkennen, das zu emotionalen Zuständen führt, die in der Aufführung übertrieben werden: Auf der Bühne werden wir mit dem körperlichen Ausdruck extremer Affekte, körperlicher Erregung, ermüdender emotionaler Untergrabung konfrontiert, die trotz der gewaltsamen Entladungen weiter wächst. Schreie, Schläge, Kämpfe, alles in einer Art Vollrausch, benommen und in höchster Intensität. Es ist kein angenehmes Bild, und doch scheint es, dass der Betrachter diesem quälenden Unbehagen absichtlich ausgesetzt wird.
Eine postnarrative Welt
Es ist schwierig, hier von einer logischen Erzählung im traditionellen Sinne zu sprechen. Die Show wird aus Fetzen von Geschichten wie Memes oder Posts zusammengesetzt – alles ist hier temporär. Die unbeholfen aus Schwamm ausgeschnittenen Requisiten (Hagen Keller) betonen die Hässlichkeit, Vergänglichkeit und Schäbigkeit, die vielen Schöpfungen des Internets innewohnen, einschließlich der jetzt idealisierten künstlichen Intelligenz. Es sei daran erinnert, dass “24/7 New Sins” die vierte Koproduktion des Polnischen Tanztheaters mit dem Künstlerkollektiv Bodytalk ist, das in einer Art “brutalistischen Ästhetik” kreiert, die sich nicht nur im Ausdruck der Bewegung, sondern auch in der Szenografie widerspiegelt: Requisiten werden als Schrott behandelt, als vorübergehend nur nützliche Objekte. An einer Stelle der Aufführung wird ein riesiger Sack mit Schnipseln des schwammigen Materials, aus dem sie bestehen, von den Tänzern verstreut; die Schwammfragmente erdrücken den Zuschauer mit ihrem Übermaß und gleichzeitig ihrer Überflüssigkeit. In dieser Welt des Überflusses und der Künstlichkeit fehlt die Geschichte, die dem Leben einen Sinn und ein Ziel gibt. Menschliche Körper (die von den Tänzern zu Beginn der Aufführung lächelnd als “kontrolliert” bezeichnet wurden) mischen sich unter diese Ausschnitte, sterben in Krämpfen, verlieren sich in der Anonymität, ohne jegliche menschliche Dimension. So sterben sterbliche Sünder, aber so stirbt auch etwas anderes – die Welt, die wir kannten und die auf einer Art vernünftigem Fundament zu stehen schien.
Es gibt kein Licht am Ende des Tunnels
Als Reaktion auf ein solch dystopisches Bild möchte man protestieren: Das ist doch nicht die einzige Wahrheit über unsere Realität! Das Publikum mag eine Revolte empfinden – wo ist denn da noch Hoffnung? Nicht in Vivaldis Musik, die von störender Elektronik übertönt wird, und auch nicht in der Rachitik-Pflanze, die in einem Wust von künstlichen Gebilden grotesk aussieht und nur für einen Moment existiert. Der Brutalismus übernimmt die Bühne. Aber vielleicht ist das genau der Effekt, den die Macher erreichen wollten – der Hunger nach etwas Menschlichem ist umso stärker, je entmenschlichter, grausamer das Bild wird. Der ergreifendste Moment ist der Schlusseffekt, der mit Hilfe einer Lichtprojektion (Sven Stratmann) aufgebaut wird und die Illusion einer Tunnel- oder Korridorarchitektur erzeugt. Diese optische Täuschung – die ein starkes Gefühl der Klaustrophobie hervorruft und den Betrachter in die digitale Maschine hineinzieht – erinnerte mich an die besondere Architektur des Jüdischen Museums in Berlin, das einen ähnlichen und ebenso starken Eindruck auf mich machte. Die Lichtspiele, die die Performance abschließen, sind nicht das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels, sondern Strahlen, die von den Bildschirmen elektronischer Geräte ausgehen und uns durchdringen, einengen, überwältigen und ersticken. Die Performance lässt uns ohne Antworten zurück, wie wir damit umgehen sollen – sie ruft uns vielmehr dazu auf, aufzuwachen und Fragen nach der Zukunft des Menschlichen zu stellen angesichts der blinden Bewunderung für digitale Technologie und künstliche Intelligenz, die sich in eine unbekannte Richtung entwickelt.
Polnisches Tanztheater und Bodytalk: “24/7 New Sins”, Choreographie und Regie: Yoshiko Waki, Dramaturgie: Rolf Baumgart, Musik: Patryk Pilasiewicz und Collage und Bearbeitung: Antonio Vivaldi, Steve Reich, Andrzej Konieczny, Melanie Martinez, Kostüme und Bühnenbild: Nanako Oizumi, Lichtgestaltung: Timo von der Horst