Eisiger Wind pfeift über das Zechengelände Zollverein seit dem frühen Morgen. Fast so, als wollte er an den letzten Tagen der Tanzplattform die Besucher aus aller Welt dorthin verwehen, wo sie hergekommen sind. – Die Impressionen des Abschlusstages kommen…

 

von Bettina Trouwborst

 

Eisiger Wind pfeift über das Zechengelände Zollverein seit dem frühen Morgen. Fast so, als wollte er an den letzten Tagen der Tanzplattform die Besucher aus aller Welt dorthin verwehen, wo sie hergekommen sind. Einige ziehen bereits, dick vermummt, ihren Trolley hinter sich her Richtung Straße. Andere suchen eilig noch einmal die vertrauten (Bühnen-) Räume auf.

DANCE ON MIT FORSYTHE-DUO „CATALOGUE“

Bei Pact Zollverein wird allen warm. Den Zuschauern ums Herz, denn Brit Rodemund und Christopher Roman begegnen ihnen auf der kleinen Bühne ganz entspannt, sympathisch und menschlich. Als Mitglieder von Dance On interpretieren die beiden das hochkonzentrierte Duo „Catalogue (First Edition)“, das William Forsythe für das Ensemble der reifen Tänzer entwickelt hat. Als „barock“ hat der Meister es selbst bezeichnet. Üppig, in der Tat, ist das raffinierte Bewegungsvokabular, mit dem er den klassischen Kanon und die menschliche Anatomie wieder mal zerlegt. Die 18-minütige Miniatur für Zwei legt er wie einen Dialog an.

Ein Forsythe eben, mit einigen neuen Figuren und sinnlicher als gewohnt. Schon weil die beiden Interpreten sich zwischendurch über Blicke und Körperlichkeit verständigen. Einmal streift Christopher Roman versehentlich bei einem Armschwung hörbar Rodemunds Gesicht – beide lächeln verschmitzt. Der Amerikaner dekliniert die Möglichkeiten der einzelnen Körpersegmente in Windeseile durch,  intensiv und hochenergetisch. Dabei erweitert sich der Bewegungsradius zunehmend, was den Körper selbst, aber auch den Raum angeht. Schließlich zirkeln Rodemund + Roman um sich selbst und  gleichzeitig um den anderen. Eine Meister-Lektion in Sachen William Forsythe, erteilt mit wunderbar gelassener Perfektion.

SONST WENIG MEISTERLICHES

Meisterliches hatte die Tanzplattform 2018 nicht allzu oft zu bieten. Kritik an der Auswahl der Jury hörte man immer wieder. Selbst das Gastspiel von Sasha Waltz & Guests von „Kreatur“ im Aalto Theater erfüllte nicht die hohen Erwartungen. Die großen choreografischen Momente und die eindrucksvollen Bildideen für unsere zerrissene Gesellschaft verloren ihre Kraft durch die zerdehnten Variationen des letztlich immer Gleichen – trotz der fantastischen Kostüme der Modedesignerin Iris van Herpen.

EISA JOCSON „PRINCESS“

Auch Eisa Jocsons „Princess“ enttäuschte, auch wenn es hier einiges zu schmunzeln gibt. Die Produktion der Filipina ist eine witzig-absurde Persiflage auf das Gebrüder Grimm-Märchen „Schneewittchen“. Und nicht viel mehr. Dabei erhebt Jocson einen sozialkritischen Anspruch.

Die Tänzerin, Choreografin und bildende Künstlerin hat gemeinsam mit dem Performer Russ Ligtas Merchandising-Produkte des Walt Disney-Imperiums analysiert und sich Gesichtsausdruck, Körperhaltung und Bewegungen der Märchenfigur aus dem berühmten Kinofilm „Snow White“ angeeignet. In dem Tanzstück imitieren und karikieren die beiden Filipinos im identischen Schneewittchen-Kleid mit rotem Schleifchen auf dem Kopf das Klischee vom „schönen Kind“. Es ist schon witzig und unterhaltsam, wie die beiden kokett herumtippeln und mit hoher Säuselstimme Film-Zitate in den Raum werfen oder sich an das Publikum wenden: „Where is your Mum and your Papa?“. Dabei bewegt sich das doppelte  Schneewittchen, sehr passend, auf einer ausgerollten Leinwand. Mädchenhaft glucksen und kichern die beiden, schluchzen herzallerliebst, werfen sich theatralisch zu Boden.

Laut Programm allerdings geht es der Choreografin um die Kolonialgeschichte ihres Landes und die Ausbeutung ihres Volkes. Denn Disneyland Hongkong ist einer der wichtigsten Arbeitgeber für philippinische Tänzer in der Region. Nur erhalten diese wegen ihrer Hautfarbe lediglich Nebenrollen. Unter diesem Aspekt gewinnt das Ideal einer „Haut, weiß wie Schnee“ eine ganz andere Dimension. Doch erst wenn das männliche Schneewittchen erwähnt, dass es Bleichmittel verwendet, um weiß zu sein, erhält der Zuschauer eine Ahnung, worum es Eisa Jocson eigentlich geht.

contemporary dance, performance

LIGIA LEWIS „MINOR MATTER“

Ähnliches gilt für Ligia Lewis‘ Produktion „minor matter“. Die Tänzerin aus der Dominikanischen Republik hat in Florida und Virginia ihre Ausbildung gemacht, ging dann nach Europa, um als Tänzerin unter anderem bei Estzer Salamon zu arbeiten. Derzeit ist sie Factory Artist im Tanzhaus NRW. Ihr Thema: Minderheiten. Im Zentrum des Stückes auf der Tanzplattform steht, so der eigene Anspruch, ihre Hautfarbe – „blackness“. Doch was wir sehen, ist die effektvolle Show dreier beeindruckender Mover. Das Trio tobt sich theatralisch und unterhaltsam im Bühnennebel aus. Es wird gelacht, geschrien und gejammert. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Diskriminierung sieht anders aus. Einen Aufstand gegen Unterdrückung, ein Plädoyer für eine Politik der Minderheiten sucht man vergeblich. „Läppisch“, kommentiert ein renommierter Choreograf im Publikum. Der Titel lässt sich, wie treffend, übrigens auch mit „Nichtigkeit“ übersetzen.

Auch wenn die Choreografin in New York den Bessie Award für diese Arbeit erhielt, darf man zweifeln, ob „minor matter“ den künstlerischen Kriterien der Tanzplattform gerecht wird. Wie manch andere Tanzplattform-Produktion 2018, siehe oben. Oder hat die Tanzkunst made in Germany nicht mehr zu bieten?