TanzSoloFestival Bonn 2023

Zoe Demoustier zeigt im Theater im Ballsaal in Bonn

Unfolding an Archive

von Thomas Linden

Der belgische Journalist Daniel Demoustier erhielt seine Aufträge aus dem Fernsehen. Heute erinnert sich seine Tochter Zoe daran, dass sie als Kind gemeinsam mit ihrem Vater die Nachrichten schaute. Wenn sich dann irgendwo auf der Welt eine Naturkatastrophe ereignet hatte oder ein Krieg ausgebrochen war, packte der Vater seine Sachen und begab sich auf der Stelle in das jeweilige Krisengebiet. Daniel Demoustier war über Jahrzehnte hinweg Kriegsberichterstatter. Mit der Kamera durchstreifte er im Jugoslawienkrieg Sarajewo, wurde im Irak angeschossen und berichtete aus Beirut, dem Kongo und Mali. Zu Beginn ihrer Produktion „Unfolding an Archive“ präsentiert Zoe Demoustier aus dem Off ein Interview mit ihrem Vater. Zu hören, sind die Stimmen der beiden, dazu gibt es die deutsche Übersetzung in Form einer Projektion. Der Vater erzählt von seinen Einsätzen rund um den Erball als handelte es sich um Jungsabenteuer. Er hielt sich während des Hurrikan Katrina in New Orleans auf und befand sich in Paris, als Lady Diana verunglückte. Manches ist ihm unter die Haut gegangen, etwa das furchterregende Rumoren eines feuerspeienden Vulkans oder das Geräusch der Hände, wenn die Frauen sie sich vor Verzweiflung auf den Kopf schlagen. „Das hört man oft im Nahen Osten“, fügt er hinzu.

Die akustische Szenerie hat Zoe Demoustier mehr beeindruckt als die Bilder, die der Vater von seinen Einsätzen mitbrachte. Denn die hatte er seinen Kindern immer gleich zeigen müssen wenn er heim kam, wie sich Zoe erinnert. Während die Zeit für die Familie in seiner Abwesenheit still zu stehen schien, überflutete der Vater das Zuhause der Kinder bei seiner Rückkehr ungefiltert mit den Ereignissen der Welt. Damals konnte sich die Tochter dagegen nicht schützen, heute versucht sie diese Eindrücke mit ihrer Arbeit als Choreographin zu verarbeiten. Während wir als Zuhörer den Worten des Vaters lauschen, zeichnet Zoe Demoustier weiße Linien auf den nachtschwarzen Schnürboden des Theater im Ballsaal. Schon allein die Ruhe, mit der sie ihrem Plan folgt, schafft Distanz zu den Worten aus dem Off.

Dem Informationsgewitter des Vaters begegnet Zoe Demoustier mit einer wirkungsvollen Strategie. Informationen sind wie Pfeile, die schnell verglühen, sobald sie ihren Gehalt eingelöst haben. Ist ihre Funktion erfüllt, gleichen sie Punkten, die jeder Bewegung beraubt sind. Zoe Demoustier zeichnet hingegen Linien. Die sind verschlungen, verbinden aber Stationen auf ihrer Reise durch das Archiv des Vaters. Linien entsprechen Geschichten, und Geschichten sind das geeignete Mittel, um Emotionen zu verarbeiten. Das braucht Zeit, ist aber konstruktiv. Zoe Demoustier bedient sich aus dem akustischen Material ihres Vaters. An einzelnen Stellen im Raum ertönen Geräuschkulissen aus Kriegen oder Demonstrationen und Aufständen. Zwischen ihnen bewegt sich die junge belgische Choreographin immer schneller hin und her. Mit den Armen setzt sie Geräusche in Gang oder stoppt sie. Mitunter spult sie das akustische Material auch zurück. Ein wilder Tanz der Geräusche wird entfesselt. Dieses virtuose Spiel ist nur zu realisieren, weil der Choreographin mit Willem Lenaerts ein kongenialer Sound-Designer zur Seite steht. Die Präzision mit der Tanz und Sound aufeinander reagieren, ist einfach verblüffend.

Dabei betreibt Zoe Demoustier eine Art Exorzismus. War sie in der Vergangenheit den Bildern und Tönen der Nachrichtenlawine des Vaters ausgeliefert, übernimmt sie nun selbst den Umgang mit den Dokumenten. Diese verlieren im lustvoll entfesselten Chaos der Effekte ihre bedrohliche Wirkung. Zoe Demoustier demonstriert beeindruckend die Möglichkeiten des Tanzes als Medium der Reflexion. Indem sie die Geräusche verortet und selbst über Bewegung verknüpft, entsteht ein künstlerisches Produkt, das die bleierne Schicksalsdimension des Dokuments auflöst. Damit befreit sie auch die Rezeption der Katastrophen-Berichterstattung von jeder Betroffenheitsattitüde und eine sachliche Wahrnehmung wird wieder möglich. Erneut präsentiert das Internationale Bonner Tanzsolofestival mit „Unfolding an Archive“ eine Produktion der Extraklasse in seinem Programm.