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“SCHLAFENDE FRAU” von Rainer Behr

und unsere Nachtkritik:

Zuflucht ist Nirgendwo…

Am 20.Januar 2022 hatte “SCHLAFENDE FRAU” von Rainer Behr mit dem Tanztheater Wuppertal Pina Bausch Premiere im Opernhaus.

Besprechung von Klaus Dilger

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Im Juni 2021 war es wegen Corona noch die leider wenig überzeugende Film-Version des Stückes, die die Spielzeit des Tanztheaters abschloss (Wir berichteten darüber – HIER) Nun eröffnet die Bühnenfassung von Rainer Behr’s “SCHLAFENDE FRAU”  die Saison im Opernhaus, das nach den Hochwasserschäden des Sommers lange geschlossen war und dessen Bühnentechnik noch immer nicht voll funktionsfähig zu sein scheint, weshalb Rainer Behr nicht alle seiner szenischen Ideen hatte umsetzen können. Dann musste der Choreograph auch noch Julie Shanahan ersetzen, die sich wenige Tage vor der Premiere das Handgelenk gebrochen hatte und deren Rollen deswegen zum Teil mit Taylor Drury kurzfristig einstudiert und eine längere Szene mit Shanahan als Projektion eingespielt werden musste.

Viel Pech für die Produktion bis dahin, von dem das Publikum bei der Premiere von Rainer Behr’s “SCHLAFENDER FRAU”, seinem ersten (und dem neuen Intendanten geschuldet, vermutlich letzten) abendfüllenden Stück für das Tanztheater Wuppertal, kaum etwas mitbekommen haben dürfte, dank des überaus engagierten Ensembles,

Schlafende-Frau©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Behr’s Stück beginnt nahezu identisch wie sein nicht betitelter Beitrag zu UNDERGROUND VIII in 2019: in einem Werkstatt ähnlichen Laboratorium mit Wohngelegenheit. Andrey Berezin hantiert darin mit allerlei Experimenten, gelegentlich platziert er mit einem Rollstapler eine Art Liege um, auf der eine reglose Frau in weissem Kleid zu schlafen scheint, Julie-Anne Stanzak. Oder ist sie gar selbst ein Experiment?

Er öffnet Vorhänge, die eine vergitterte Öffnung nach draussen verborgen hatten. Natur wird dort sichtbar wie auf Monitoren. Nach beinahe zwanzig Minuten entfacht er ein Kaminfeuer, setzt sich auf einen Stuhl, den er vor die liegende Stanzak stellt, öffnet ein Buch und liest. Aus dem Off erklingen japanisch gesprochene Passagen von “Urashima Tarō” (wie das Programmheft verrät), jener japanischen Legende in verschiedenen Interpretationen, die von Liebe, einer verwandelten Prinzessin, einer Riesenschildkröte und unbekannten Unterwasserwelten handelt und der Relativität von Zeit, Raum und Gedächtnis.

Bei der Premiere im Opernhaus erwacht die Frau in Weiss. Bühnenarbeiter und Tänzer kommen auf die Bühne und lösen Labor, Forschungsstation oder was immer sich als Erklärung dieser Welt in den Zuschauern breit gemacht haben mag, auf und Berezin und Stanzak waten durch Bodennebel ins Dunkel.

Schlafende-Frau©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Weit entfernt in grosser Höhe erscheint Jonathan Fredrickson mit einer Handlampe und sucht seinen Weg auf die Nullebene. Seile, Metall, Mauern werden schemenhaft sichtbar. Behr und sein Bühnenbildner Michael Simon, der auch für das Licht zuständig ist, haben die Bühne des Opernhauses bis auf die Grundmauern “aufgerissen” und ohne ein einziges Requisit werden die Zuschauenden in eine Science Fiction, in eine Utopie katapultiert in der alles möglich erscheint, auch die Apokalypse oder ein Armageddon. All dies vermag die Magie eines Theaterraums zu erzeugen.

Rainer Behr hatte in einem Interview gesagt, er sei inspiriert gewesen von Andrei Tarkowski’s 1972 entstandenen sowjetischen Science-Fiction-Film “SOLARIS”, ein von einem riesigen Ozean bedeckten Planeten. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman des polnischen Autors Stanisław Lem, der über die Entstehung seines Romans schrieb, er habe auf der Raumstation den (von ihm erfundenen) Psychologen Kris Kelvin getroffen und dieser habe ihm den ganzen Roman erzählt.

Ähnlich mag es Behr bei der Entwicklung von “SCHLAFENDE FRAU” gegangen sein.

Die überwiegend stark, teilweise hervorragend agierenden Tänzerinnen und Tänzer katapultieren sich in die von ihnen mit entworfenen Handlungsstränge, die oft zu einprägsamen Bildern und Situationen führen. Eine Szene jagt die nächste und dazwischen glaubt der Zuschauer “Anleihen” aus anderen Stücken zu erkennen. All dies wird stets mit grosser Überzeugung und Spielfreude vorgetragen, selbst wenn manchen der Szenen eine Verdichtung gut getan hätte. Gekoppelt mit diesen Szenen  jagt eine Musikfolie die nächste und unterstreicht so manches Mal die erkennbaren oder gefühlten Defizite in der Dramaturgie. (Musik Andreas Eisenschneider). Halt und Struktur geben da hin und wieder die ruhigen, innehaltenden Momente in Behr’s Choreographie, von denen es einige gibt, ebenso wie Momente voll Humor und sogar Selbstironie.

Schlafende-Frau©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Nur, – Behr vergisst darüber die mannigfach entwickelten Gedanken- und Tanzstränge miteinander zu verweben, so wie es die grosse Tanztheater-Ikone Pina Bausch meisterhaft beherrschte, weshalb sich im Zuschauenden, oft Tage nach der Vorstellung, Geschichten ohne Narration entwickelten, die berührten und Erkenntnisse schufen, die gelegentlich sogar vermochten Leben zu verändern.

Vielleicht hätte Behr auch mehr Zeit gebraucht, um die Sorgfalt zu entwickeln, für die die Compagnie gemeinhin so berühmt geworden ist. Dies betrifft weniger die zahlreichen Soli, als vielmehr die Gruppenchoreographien, denen es immer wieder an Präzision und auch an Inhalt fehlte. Auch dies mag den Corona Umständen geschuldet sein.

Darauf nicht zurückführen lässt sich die Kostümausstattung der Produktion durch Susanne Stehle: die Tänzerinnen und Tänzer sahen fast durchweg entweder  “kostümiert” aus, oder als hätten sie ihre Kostüme vergessen. Dimensionen, für die das Tanztheater weltberühmt ist, lassen sich so nicht erzeugen.

Was bleibt ist trotz aller Kritikpunkte die unbändige Freude, dass Theater ein grossartiger Ort der Utopie ist, dass das Live-Erlebnis von Tanz auf hohem qualitativen Niveau nicht ersetzbar ist, ebensowenig wie die Gravität, die uns Zuschauende zu Miterlebenden macht.

Mit Emma Barrowman, Andrey Berezin, Taylor Drury, Jonathan Fredrickson*, Blanca Noguerol Ramírez, Milan Nowoitnick Kampfer, Nazareth Panadero*, Julie Shanahan, Ekaterina Shushakova, Julie Anne Stanzak, Julian Stierle, Christopher Tandy, Stephanie Troyak*, Tsai-Chin Yu – *als Gäste

Schlafende-Frau©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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