Was verteidigen wir eigentlich?
Die Bedrohung von Kunst und Kultur, insbesondere der Darstellenden Künste, in NRW und anderswo ist real und der Protest dagegen ist notwendig und richtig, aber diese Gefährdung geht weit über Kürzungen hinaus.
Dazu ein Essay von Klaus Dilger
150 Menschen vor dem Landtag in Düsseldorf. Sie demonstrieren gegen die geplanten Kulturkürzungen in NRW. Fast alle, die da stehen, sind selbst betroffen: Künstler_innen, Kulturschaffende, Freie Träger. Der Rest der Gesellschaft? Abwesend. Wie so oft.
Diese Szene ist symptomatisch für einen gefährlichen Befund: Die Kunst(szene) scheint das öffentliche Bewusstsein nicht (mehr) zu erreichen.
Diese Marginalisierung kommt nicht nur von außen. Auch der Kunstbetrieb selbst trägt Verantwortung. Zu lange hat er sich in Förderlogiken eingerichtet. In institutioneller Selbstoptimierung. In der Verwaltung eigener Relevanz.
Diese Art von „Kunst“ ist vielerorts zu einer Sprache geworden, die nur noch in ihren eigenen Milieus funktioniert. Selbstreferenziell, verklausuliert, behauptend, abgesichert. Viele Bürger_innen wissen nicht mehr, wozu diese „Kunst“ eigentlich gut sein soll. Sie erleben sie nicht im Alltag. Nicht als Teilhabe, nicht als Reibung, nicht als Spiegel. Erleben sie nicht als Kunst, sondern als etwas Abstraktes, Elitäres – oder bestenfalls Nettes.
Die Folge: ein gefährlicher Bedeutungsverlust. Die Pandemie hat das offenbart. Pflegekräfte, Kassierer_innen, Lieferdienste galten als „systemrelevant“. Künstler_innen nicht. Nicht, weil sie weniger wichtig wären, sondern weil sie zu selten gesellschaftlich notwendig auftreten. Weil sie sich nicht einmischen. Weil sie in der eigenen Blase kreisen. Und sich zu oft an Fördertöpfen statt an innerer Notwendigkeit orientieren.
Was vermag Kunst, wenn sie berührt?
Die Frage stellt sich neu – dringlicher denn je – für den Einzelnen, für die Gesellschaft.
Die Antwort ist konkret.
Ein Jugendlicher, der im Tanzprojekt zum ersten Mal seinen Körper spürt. Ein Geflüchteter, der seine Geschichte im Dokumentarfilm verarbeitet. Eine alte Frau, die im Theater zum ersten Mal seit Jahren wieder lacht. Ein Schulkind, das im Museum erfährt, dass seine Fantasie zählt.
Ein Teenager, der im Streetdance-Workshop zum ersten Mal Selbstbewusstsein spürt. Eine Neuntklässlerin, die durch ein Theaterprojekt ihr Stottern überwindet. Ein pensionierter Stahlarbeiter, der im Literaturkreis Gedichte über seine Kindheit schreibt. Eine Frau mit posttraumatischer Belastungsstörung, die in der Kunsttherapie erstmals wieder malt.
Eine Schulklasse, die in einem Hip-Hop-Projekt über Rassismus spricht – und zusammen textet. Ein Trans-Jugendlicher, der durch Drag-Performance seine Identität ausdrücken darf. Ein junger Vater, der mit seinem Kind eine Mitmach-Oper besucht – und zum ersten Mal weint. Eine pflegende Angehörige, die im Schauspielkurs endlich wieder Freiheit verspürt.
Ein Gefängnisinsasse, der mit anderen ein Theaterstück über Schuld und Verantwortung entwickelt. Ein älterer Mann, der im Fotoprojekt seiner Demenzgruppe Erinnerungen sichtbar macht. Eine Frau mit Sehbehinderung, die im Tanzprojekt Raum durch andere Sinne erfährt. Ein Schulverweigerer, der durch einen Comic-Workshop wieder am Unterricht teilnimmt. Eine junge Aktivistin, die im Dokumentarfilm-Kollektiv ihre Wut in politische Sprache verwandelt.
Eine Roma-Familie, die mit einer mobilen Bühne ihr Dorfleben selbst erzählt. Eine muslimische Jugendliche, die beim Poetry Slam zum ersten Mal nicht unterbrochen wird. Ein einsamer Rentner, der in der Stadtteilgalerie seine Collagen ausstellt – und gesehen wird. Ein Kriegsenkel, der durch das Schreiben über seinen Großvater endlich Fragen stellen kann. Eine WG von Menschen mit geistiger Behinderung, die im inklusiven Zirkus Selbstwirksamkeit erfährt.
Ein queerer Teenager, der sich durch Performancekunst mit seiner Angst auseinandersetzt. Ein geflüchteter Junge, der mit einem selbstgebauten Papiertheater seine Heimat erklärt. Eine Pflegekraft, die in einem Community-Workshop über ihre Überlastung tanzt. Eine alleinerziehende Mutter, die im feministischen Theaterprojekt Stärke findet. Ein Ukrainer, der in einer Videoinstallation über Verlust spricht – ohne Worte. Ein Israeli und ein Palästinenser, die über ein Tanzduett in Kontakt treten.
Millionen solcher Sätze könnten folgen…
Kunst ist Erfahrung. Begegnung. Öffnung.
Sie stiftet Sinn, wo Systeme versagen.
Und sie ist ein Versprechen:
Dass wir als Gesellschaft mehr sein können als das, was gerade ist.
Warum Kunst keine Randnotiz im Sicherheitsdiskurs sein darf
Im Sommer 2025 werden neue Wahrheiten gesetzt. Verteidigung ist plötzlich alles. Kultur fast nichts. Die Bundesregierung folgt dem neuen NATO-Kurs und plant, ihre Militärausgaben von bisher (weniger als) zwei auf künftig fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern – rund 215 Milliarden Euro jährlich. Deutschland würde damit zum viertgrößten Militärhaushalt der Welt aufsteigen, nach den USA, China und Russland. Fast unbefragt von der Öffentlichkeit wächst das Verteidigungsministerium zur finanzpolitischen Schaltzentrale der Republik.
Auch wenn die Haushalte nicht unmittelbar zusammengehören, so durchdringt die, zunächst durch Schulden finanzierte, Aufrüstung alle anderen Budgets. Jahr für Jahr müssten 130 Milliarden zusätzlich aufgebracht werden. Kommunale Aufgaben können kaum noch bewältigt werden, freiwillige Leistungen, wie die Förderung von Kunst und Kultur, werden als Erstes eingespart. Der Investitionsstau der letzten Jahrzehnte trifft auf die Spätfolgen der Pandemie und die multiplen Krisen unserer Zeit. In diesem Klima wird Kultur zum ersten Opfer. Nicht weil sie besonders teuer wäre, sondern weil sie sich am leichtesten und mit dem geringsten gesellschaftlichen Widerstand kürzen lässt, wird Kulturförderung eingefroren, gestrichen, ausgelagert. Theater, Tanzhäuser, soziokulturelle Zentren, Jugendprojekte und freie Künstler:innen geraten unter Druck. Während das Militär aufrüstet, wird die kulturelle Infrastruktur systematisch zurückgebaut – leise, beiläufig, fast verwaltungstechnisch.
Doch das ist mehr als ein haushaltspolitischer Vorgang. Es ist ein Signal. Eine Prioritätenverschiebung. Eine gefährliche.
Militärische Aufrüstung + Rechtsruck = toxische Allianz
Militärische Stärke galt in der Geschichte oft als Grundlage nationaler Größe – besonders in autoritären und rechtsextremen Ideologien.
Wenn heute die Militäretats in Europa massiv steigen, gleichzeitig rechtsextreme Parteien wie AfD (Deutschland), RN (Frankreich), FdI (Italien), PVV (Niederlande), PiS (Polen) oder Fidesz (Ungarn) an Einfluss gewinnen und nationale Souveränität über europäische Zusammenarbeit gestellt wird, dann ist das kein Zufall, sondern eine gefährliche Rückkopplung.
Was diese rechtsextremen Kräfte eint: die Ablehnung liberaler Demokratie und eine tiefe Feindseligkeit gegenüber kritischer Kunst.
Dies lässt sich auch global beobachten: Seit seiner Wiederwahl im Januar 2025 regiert Donald Trump die USA mit noch aggressiverer kulturfeindlicher Agenda. Bereits in seiner ersten Amtszeit versuchte er, staatliche Kunstförderung zu streichen, kritische Kunst als „woke propaganda“ zu diffamieren, Kulturinstitutionen ideologisch zu disziplinieren. Nun nutzt seine Regierung gezielt öffentliche Mittel, um missliebige Kunstprojekte zu sanktionieren oder ausbluten zu lassen. Einrichtungen, die Diversität, Erinnerungskultur oder queere Perspektiven vertreten, geraten unter massiven politischen Druck.
Was all diese Bewegungen verbindet: Wo die Künste verstummen, schaffen andere Bilder – einfache, identitätsstiftende, ausgrenzende. Kultur wird nicht mehr als pluraler Möglichkeitsraum verstanden, sondern als Kulisse nationaler Erzählung. „Leitkultur“ ersetzt Vielstimmigkeit. „Heimatkunst“ verdrängt Ambiguität.
Für sie ist die Schwächung der freien Künste kein Kollateralschaden. Sie ist politisches Ziel. Denn wo Kunst offen bleibt, sind autoritäre Antworten schwerer zu verkaufen.
Gerade deshalb muss Kultur heute Widerspruch organisieren. Nicht als Parteipolitik. Sondern als demokratisches Grundrauschen – sensibel, streitbar, unbestechlich.
Demokratie ohne Resonanzräume
Kultur ist keine Dekoration. Kein Sahnehäubchen des Sozialstaats. Sondern ein Grundpfeiler der Demokratie. In der Kunst tritt Gesellschaft mit sich selbst in Kontakt – in Widersprüchen, Fragen, Erinnerungen, Utopien. Sie schafft Räume der Ambiguität in einer politischen Sprache, die zur Vereinfachung neigt. Sie erlaubt Dissens, ohne Gewalt. Sie produziert Bedeutung, bevor Statistiken sie messen können.
Was bleibt von einer Demokratie, wenn ihre Bühnen verstummen? Wenn kein Ort mehr da ist, an dem Konflikte verhandelt, gespiegelt, verunsichert werden können – jenseits von Zustimmung oder Ablehnung?
Kunst ist nicht die Lösung aller Probleme. Aber sie ist der Raum, in dem Probleme überhaupt erst sichtbar, fühlbar, verhandelbar werden.
Und doch wird sie gerade jetzt an den Rand gedrängt. Weil sie nicht „schnell hilft“. Weil sie nicht „vermittelt“. Weil sie nicht „abschreckt“. Sondern fragt, tastet, zögert, stört. Weil sie manchmal keine Antwort gibt. Und genau darin liegt ihre Kraft.
Die große Leerstelle: Aufrüstung ohne Widerspruch
Dass Kunst heute auch zur Aufrüstung schweigt, ist Symptom ihrer Selbstentmachtung.
Überall in Deutschland protestieren Künstler_innen – gegen Kürzungen, gegen Schließungen, gegen ihr Verschwinden. Aber kaum jemand protestiert gegen die billionenschweren Rüstungspläne. Gegen den Rückbau kultureller Öffentlichkeit zugunsten militärischer Schlagkraft. Gegen das Abrutschen des Kulturbegriffs in bloße Standortpolitik.
Wo bleibt der künstlerische Aufschrei gegen die Transformation zur Sicherheitsgesellschaft? Gegen die Illusion, dass sich Freiheit durch Waffen sichern lässt – nicht durch Vertrauen, Bildung, Teilhabe, Kultur?
Wo bleibt das utopische Gegenbild zur Verteidigung mit Gewalt?
Stattdessen: Resignation. Man kämpft um Budgets, nicht um Bedeutung. Um Flächentarife, nicht um Freiräume. Um Anträge, nicht um Öffentlichkeit.
Dabei wäre gerade hier Widerspruch gefragt.
Denn die gesellschaftliche Debatte wird längst dominiert von einem neuen Konsens: Aufrüstung sei alternativlos. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine gilt als letzte, unumstößliche Begründung – für eine neue militärische Realität, für gigantische Verteidigungsetats, für eine „Kriegstüchtigkeit“, die bis in die Sprache des Alltags sickert.
Doch wo bleibt das Nachfragen? Die kritische Distanz? Die künstlerische Gegenstimme zur Logik der Waffen?
Stattdessen herrscht Stille.
Aus Angst, naiv zu wirken?
Aus Angst, mit der falschen Seite verwechselt zu werden?
Aus Angst, missverstanden zu werden – in einer Zeit, in der sich Differenzierungen schwerer vermitteln lassen als Parolen?
Doch wer nicht fragt, verliert.
Und eine Kunst, die sich nicht mehr traut, Widerspruch zu formulieren – selbst gegen hegemoniale Narrative –, verliert ihre Relevanz oder hat sie schon verloren.
Für eine radikale Rückbesinnung auf kulturelle Verantwortung
Was verteidigen wir eigentlich, wenn wir die Bedingungen abschaffen, unter denen Demokratie lebendig bleibt? Wenn wir die Räume opfern, in denen Differenz, Kritik und Utopie verhandelt werden können? Wenn wir glauben, ein Land könne überleben, ohne sich selbst zu befragen?
Kultur darf nicht nur sprechen, wenn es um ihre eigene Finanzierung geht. Sie muss lauter werden, mutiger, unbequemer.
Denn die größte Bedrohung für die Demokratie kommt nicht nur von außen. Sondern von innen:
Durch Gleichgültigkeit. Durch Vereinfachung. Durch den Verlust kultureller Vorstellungskraft.
Wenn die Kunst nicht widerspricht, wenn sie sich nicht einmischt, wenn sie keine anderen Wirklichkeiten entwirft –
dann bleiben die Bühnen vielleicht als Bauten stehen.
Aber niemand wird mehr zuhören.