Christoph Winkler beim move! Festival 2022

Welche Farbe haben die Zellen…?

Company Christoph Winkler überzeugt beim Festival Move! mit dem Solo „On Hela The Colour of Cells“ in der Fabrik Heeder Krefeld

von Bettina Trouwborst

Medizinisch steril wirkt die weiße Bühne, angelegt zwischen Labor und Galerie. Ein Mikroskop auf einer Stele, Mikrofone verteilt im Raum, dazu ein weißer Tisch, an den sich Lois Alexander setzt. Mit der Distanziertheit einer Nachrichtensprecherin – und einem unterschwelligen Vorwurfston, der sich erst später erklären wird – referiert die Tänzerin, immer im Wechsel, die Biografien zweier Menschen, die einander nie begegnet sind: Henrietta Lacks und Christoph Winkler. Von beiden sind Großaufnahmen an die Rückwand projiziert: eine füllige, lebensfrohe Schwarze in jungen Jahren und ein tief ernst blickender Mann in mittleren Jahren.

Was die Afroamerikanerin und den deutschen Choreografen verbindet, ist die Diagnose Krebs. Lacks verstarb 1951 an Gebärmutterhalskrebs. Bei einer Tumorbehandlung wurden ihr – ohne ihr Wissen – Zellen entnommen und an ein Labor weitergegeben. Aus diesen Zellen entstand die erste unsterbliche Zell-Linie zu Forschungs- und Heilzwecken. Davon profitieren Patienten – wie Winkler – bis heute.

On-Hela-The-Colour-of-Cells_Christoph-Winkler©TANZweb.org_Klaus-Dilger

On-Hela-The-Colour-of-Cells_Christoph-Winkler©TANZweb.org_Klaus-Dilger

In dem Solo „On Hela The Colour of Cells“ verarbeitete Winkler seine eigene Krebserkrankung. Das Stück, entstanden 2019 in engem Austausch mit Lois Alexander, gastierte jetzt beim Krefelder Festival für modernen Tanz im Rahmen von move extended – Winkler stammt nicht aus NRW, sondern reiste aus seiner Heimatstadt Berlin an. Der Choreograf erhielt soeben, gemeinsam mit Marco Goecke, den Deutschen Tanzpreis 2022 in Essen. Er überzeugte die Jury mit seinem breiten Spektrum an Formaten und Ansätzen: Der intellektuelle Kopf setzt sich in seinen mehr als 80 Arbeiten mit politischen und gesellschaftlichen Sujets von Faschismus, Postkolonialismus und Kapitalismuskritik bis hin Verlust und Altersarmut auseinander. Aber auch persönliche Anliegen macht er zum Thema.

So gelingt es dem 55-Jährigen in seinem dokumentarischen Tanzstück „On Hela The Colour of Cells“, unaufdringlich und in weiten Teilen fesselnd mittels Sprache, Tanz, Videoinstallation und Musik das schwierige Thema Krebs künstlerisch auf die Bühne zu bringen. Dabei geht es nicht nur um das persönliche Schicksal von Lack und Winkler, sondern um relevante Informationen. Das Solo erzählt von einem bahnbrechenden Erfolg in der Humanmedizin mit unethischen Mitteln, von Rassismus und Privilegien. Dennoch verharrt das Stück nicht in der Anklage, es gibt mehr Hoffnung als Resignation.

Henrietta Lacks, Jahrgang 1920, bekam ihr erstes im Baby Alter von 14 Jahren – sie hatte selbst acht Geschwister. Beim Ausbruch der Krankheit, mit 30 Jahren, waren es fünf Kinder. Dennoch, als die Mediziner ihr nach der Tumorbehandlung eröffneten, dass sie nun unfruchtbar sei, sagte sie, wenn sie das gewusst hätte, hätte sie nicht zugestimmt. Lois Alexander gibt weiterhin ins Mikrofon zu Protokoll, dass das Krankenhaus in Virginia zu dieser Zeit das einzige in der Region war, das Farbige behandelte. Lebensfroh sei die junge Frau gewesen, roten Nagellack habe sie geliebt und abendliches Tanzvergnügen. Das Stück macht sie zu mehr als einem medizinischen Fall, zu einem sympathischen Menschen.

On-Hela-The-Colour-of-Cells_Christoph-Winkler©TANZweb.org_Klaus-Dilger

On-Hela-The-Colour-of-Cells_Christoph-Winkler©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Alexander atmet tief durch. Und erzählt von „Christoph“. Christoph Winkler hatte Fieber. Immer wieder. Er verlor Gewicht, wurde schwächer, insistierte auf einer Diagnose. Irgendwann fand man Auffälligkeiten in seinem Knochenmark. Das sind schwere Worte, die die Tänzerin in schwarzen Jeans  mit kurzärmeligen Glitzer-Rolli sogleich mit einer harmonischen Tanzsequenz abgefedert. Zu schwebendem Sound versinkt sie in wellenförmige, immer raumgreifenderen Bewegungen. Sie lässt eine Hand vibrieren, flattern, als hallten die Informationen in ihr nach. An der Rückwand geraten auch die eingefärbten Zellkulturen in sanfte Bewegungen. Es ist eine tröstende, aber keineswegs gefühlige Ästhetik. Später, wenn das Stück sich vom persönlichen Schicksal abwendet, tanzt Alexander immer befreiter, dreht sich um einen weißen Kubus, die Arme weit ausgebreitet, zu perlenden Klängen.

HeLa Cells – die unsterblichen Zellen wurden nach ihrer unfreiwilligen Spenderin benannt. Ihre Familie erfuhr erst Jahrzehnte später davon, dass die Pharmaindustrie mithilfe von Lacks bahnbrechende Forschungsergebnisse erzielte und exzellente Geschäfte machte. Finanziell hatten die Nachfahren nichts davon. Der latent vorwurfsvolle Ton der Dokumentation erklärt sich nach und nach. Auch eine Rede von US-Präsident Nixon von 1971 wird kurz eingespielt, der dem Krebs mit einer 100-Millionen-$-Kampagne den Kampf ansagte. Dem gegenüber gestellt wird Jens Spahns Investitionen in die Forschung in Höhe von 62 Millionen Euro – das Wirken der Mildred-Scheel-Stiftung unterschlägt Winkler.

On-Hela-The-Colour-of-Cells_Christoph-Winkler©TANZweb.org_Klaus-Dilger

On-Hela-The-Colour-of-Cells_Christoph-Winkler©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Gegen Ende schwankt das Stück zwischen Vorwurf und Selbstironie. „Aufmerksamkeitsindustrie“ zählt für Winkler zu den zehn schlimmsten Begriffen im Zusammenhang mit seiner Krankheit, die als Top-Ten-Liste projiziert werden. Eine zitatwürdige, ärztliche Aufforderung: „Ihre Zellen sind ihr Eigentum, sie können sie in der Pathologie abholen.“ Am Ende steht eine gewisse Dankbarkeit gegenüber Henrietta Lacks. Er sei es wert, dass die Gesellschaft für seine neue Therapie 200.000 Euro ausgebe – eine Chance, die Henrietta nie gehabt habe.

Lois Alexander tanzt, noch einmal. Ganz losgelöst, zwischen Bar- und Filmmusik, begleitet sie durch den Raum, als hätte das Stück seinen Frieden mit der medizinischen Welt gemacht. „On Hela The Colour of Cells“ ist ein außergewöhnliches und überzeugendes Solo, in seiner Vielseitigkeit, menschlichen und gesellschaftspolitischen Aussage. Und dabei niemals larmoyant. Es hätte mehr Publikum verdient gehabt.

On-Hela-The-Colour-of-Cells_Christoph-Winkler©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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