Tanztheater Wuppertal Pina Bausch
Zwischen Trümmern und Zärtlichkeit
Fulminante und kraftvolle Spielzeiteröffnung beim Tanztheater Wuppertal mit Café Müller und Das Frühlingsopfer von Pina Bausch
Premieren-Feedback von Klaus Dilger
Gefühlt gehör(t)en sie „seit jeher“ zusammen, weil sie das Leben aus zwei vollkommen gegensätzlichen Perspektiven betrachten und sich doch in Übereinkunft befinden, was die Bedeutung von Schicksal betrifft und der nicht enden wollende Kampf um dessen Überwindung. Und natürlich gehört es auch zur Wahrheit, dass beide Stücke jeweils allein kein „abendfüllendes Programm“ ergäben.
Sowohl „Café Müller“, als auch „Das Frühlingsopfer“ waren ursprünglich jeweils Teile von mehrteiligen Tanzabenden: 1978 war Café Müller Stücktitel und Titel eines vierteiligen Abends mit Choreografien von Pina Bausch, Gerhard Bohner, Gigi-Gheorghe Caciuléanu und Hans Pop und „Das Frühlingsopfer“ bildete zusammen mit „Der Zweite Frühling“ und „Wind von West“ einen 1975 entstandenen Tanzabend.
Ab 1980 zeigte das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch Café Müller als Doppelabend mit Das Frühlingsopfer.
Eine Frage der Besetzung und der Einstudierung
Pina Bauschs Café Müller ist eines der ganz wenigen Stücke, in denen sie selbst noch getanzt hat, nachdem sie 1973 das spätere Tanztheater Wuppertal übernommen hatte und nach jeder Wiederaufnahme, seit ihrem Tod im Jahr 2009, dreht sich die Frage stets (auch) um die Qualität der Besetzung(en) – so wie hier zum Start in die neue Spielzeit des Tanztheaters. Doch es geht um weit mehr:
„Mutige Neueinstudierungen von großen Kunstwerken können ein neues Licht auf diese werfen“,
schrieb Lilo Weber vor zwei Jahren in 2023 und zitierte dabei auch die Kollegin Nicole Strecker, die selbiges in 2017 für uns besprochen hatte:
„Remember me, remember me, but ah / Forget my fate.“ Welch herzzerreissender Gesang im Opernhaus Wuppertal. Didos Klage rührte uns, als Pina Bausch noch lebte und schlafwandlerisch durch ihr „Café Müller“ tappte. Seit sie nicht mehr da ist, ist die Arie aus Henry Purcells „Dido and Aeneas“ programmatisch geworden. „Café Müller“ werde immer das Stück bleiben, in dem Pina Bausch am meisten fehle und zugleich am stärksten spürbar sei …“ schrieb meine Kollegin Nicole Strecker hier über eine Aufführung im Jahr 2017. Wie Recht sie hat.
Doch wessen soll hier erinnert werden? Und was erinnern wir, wenn wir uns erinnern? Große Kunstwerke zeichnen sich durch Leerstellen aus. Sie lassen immer wieder neue Interpretationen zu und können von verschiedenen Menschen zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Umständen neu oder anders gelesen werden – und sie behalten ihre Dringlichkeit. Das gilt für alle Stücke Pina Bauschs, so auch für „Café Müller. Das gilt für „Das Frühlingsopfer“, das seit der Uraufführung 1975 immer wieder an jüngere Tänzerinnen und Tänzer weitergegeben wurde, auch an andere Kompanien. Allerdings öffnen sich die Leerstellen eines Tanzstücks für neue Blicke nur, wenn die Neu-Einstudierung sitzt, will sagen, in sich stimmig ist und in der Verbindung zum Kunstwerk, wie es die Autorin geschaffen hat.“
Bei Café Müller gelingen diese Leerstellen
Das Stück spielt in einem leeren, leicht verfallen wirkenden Café – Stühle, Tische, eine Drehtür, weiße Wände. Eine Welt der Nachklänge, in der zwei Frauengestalten einander auf verschiedenen Realitätsebenen zu spiegeln scheinen. Pina Bausch selbst stand in der Uraufführung auf der Bühne, barfuß, im langen weißen Kleid, die Augen geschlossen, tastend durch den Raum, mehr trippelnd als schreitend. Ihre Bewegung erschien unsicher, beinahe blind,– die Handflächen und Schultern nach vorne gerichtet, das Brustbein nach innen, als schmerzte das Herz. Alles signalisiert Sehnsucht anstatt Schutz und Abwehr. Allein die langen Arme bewegten sich frei, kreisten und schwangen zart und beseelt, wenn sie einen sicheren Ort zum Innehalten gefunden hatte. Ein Bild, das sich tief eingebrannt hat in die Ikonografie des Tanztheaters. Taylor Drury vermochte dieses Bild bei der Premiere am vergangenen Wochenende überzeugend zum Leben zu erwecken. Ebenso wie Emily Castelli, als die sie spiegelnde, somnambul suchende Liebende, in jenem Café-Haus-Bühnenbild, das nicht einfach nur Schauplatz ist, sondern Erinnerungsort, Traum und Trauma zugleich – eine Innenlandschaft, in der Menschen sich treffen und doch aneinander vorbeileben, in der Nähe gesucht und stets verfehlt wird.
Dean Biosca interpretiert exzellent die fiebrige Fürsorge des Mannes im dunklen Anzug, der alle Widrigkeiten aus dem Weg räumt, der hektisch Stühle und Tische aus ihrem Weg rückt und wirft, während es Castelli – mit weit ausgebreiteten Armen – blind und scheinbar ziellos durch den Raum treibt. Es ist eine Szene von beklemmender Spannung: Erst nach und nach erschließt sich daraus, dass dieser Akt die Gleichzeitigkeit verschiedener Seins- und Zeit-Ebenen an diesem Ort überhaupt erst ermöglicht.
Später wird Biosca diese Fürsorge auch Taylor Drury zuteil werden lassen und Christopher Tandy, den scheinbar magischen Anziehungspunkt, zu dem es Emily Castelli hintreibt, bis sie für eine beinahe leblose Umarmung aufeinanderprallen.
Als sei er das Schicksal, tritt ein Mann (Reginald Lefebvre) barfuß aber im Anzug, darunter offenes weißes Hemd, aus einer verspiegelten Tür der rechten Bühnenseite und beginnt sofort, die Beiden zu ordnen: Umarmung lösen, Köpfe gerade, Mund auf Mund, ein toter Kuss, linker Arm, Ellbogen, Arm im rechten Winkel nach vorn, rechter Arm, Ellbogen, Arm im rechten Winkel nach vorn, linker Arm der Frau um die Schulter des Mannes, dann hebt er die Frau hoch und legt sie auf die Arme des Mannes und geht ab. Tandy versucht die Last solange wie möglich zu halten, aber sie entgleitet ihm, stürzt zu Boden, steht rasch auf, um sich unmittelbar in einer Umarmung wieder aneinander zu klammern.
Sofort kehrt Lefebvre zurück. Wieder und wieder wird die Frau hochgehoben, fallengelassen, hochgehoben, fallengelassen – eine endlose Schleife des Versuchs, sich zu halten und gehalten zu werden. Immer schneller – bis sie es letztlich aufgeben, weil der Wille nicht mehr über die Kraft zu siegen vermag.
Halt findet Tandy zunächst bei Lefebvre, dessen Hände zu Stufen werden und er ihn an den Füßen durch den Raum trägt. Dann sinkt Tandy auf die Knie und Beide vereinen sich in einer stillen erstarrten Tanz-Pose, zart, traurig, unerfüllt, ohne Auflösung. Tandy wirft sich ziellos in eine Reihe von Bewegungsabfolgen, die allesamt wie ein Ritual erscheinen, das stets krachend an der Wand oder in Stürzen einen kurzen Einhalt findet, während Biosca nicht müde wird, ihm Stühle und Tische aus dem Weg zu räumen.
Jede und Jeder kämpft hier einen verzweifelten Kampf auf der Suche nach Sein, Glück, Erfüllung, auch die schrill aussehende Leisetreterin, die stets auf den Zehenspitzen in ihren roten Stöckelschuhen trippelt, in ihrem grünen Kleid unter dem schwarzen Mantel und unter ihrer auffälligen roten Perücke. Auch ihr Intermezzo mit Tandy wird von kurzer Dauer sein, denn Castelli und Tandy finden und verlieren sich immer wieder, tragen sich gegenseitig zärtlich für eine Umdrehung, um letztlich am Widerstand der Wände, Türen, Spiegel zu zerschellen, gegen die Castelli Tandy schmettert und umgekehrt, immer wieder.
Diese körperliche Wiederholung wird zu einer emotionalen Folter – und zugleich zu einem Akt der Beharrlichkeit: So schmerzhaft die Wiederholung ist, sie zeugt von der Sehnsucht, etwas zu begreifen, das rational nicht fassbar ist.
Musik als seelischer Resonanzraum
Bausch verwendet in Café Müller Musik von Henry Purcell – vor allem Arien aus The Fairy Queen und Dido and Aeneas. Diese barocken Klänge, getragen von Melancholie und Würde, verleihen dem Stück eine eigentümliche Zeitlosigkeit. Die Musik kommentiert nicht, sie verstärkt – sie schafft einen seelischen Raum, in dem die Körper zu Schatten ihrer selbst werden. Wenn Purcells Klage “When I am laid in earth” erklingt, scheint das Stück stillzustehen: Der Schmerz wird zum Ritual, zur Stille, zur Schönheit.
Wie in vielen ihrer Werke verzichtet Bausch auch hier auf lineare Handlung. Die Figuren haben keine Namen, keine psychologische Begründung, keine Entwicklung. Stattdessen zeigt sie Zustände – Einsamkeit, Angst, Begehren, Abhängigkeit, Erinnerung. Das Publikum wird nicht geführt, sondern eingeladen, sich selbst in diesen Szenen zu erkennen.
Café Müller ist keine Geschichte, sondern eine seelische Choreografie. Es ist, als würde Bausch das Unbewusste auf die Bühne bringen – nicht als Symbol, sondern als körperliche Erfahrung. Die Tänzerinnen und Tänzer sind nicht Darsteller, sie sind Träger von Empfindungen.
Zwischen Trümmern und Zärtlichkeit
Bauschs „Café Müller“ ist die Choreografie einer Zerstörung – doch unter der Verzweiflung liegt eine zarte, unerschütterliche Humanität. Der Körper wird zum Ort der Wahrheit. Wenn zwei Menschen sich umarmen und dennoch unendlich allein bleiben, dann liegt darin keine Hoffnungslosigkeit, sondern eine schmerzhafte Klarheit: Wir sind verletzlich in unserer Unvereinbarkeit, aber wir lieben trotzdem.
Zwischen den Trümmern der Kommunikation, in den Bewegungen des Scheiterns, entsteht jene fragile Schönheit, die ihr Werk so unvergänglich macht.
Siebenundvierzig Jahre nach seiner Uraufführung bleibt Café Müller ein Schlüsselwerk des Tanztheaters. Es ist radikal privat und universell zugleich – ein Stück über Erinnerung, Beziehung und die Unmöglichkeit, sich selbst zu entkommen.
Vielleicht ist es das stillste und zugleich lauteste Stück, das Pina Bausch je geschaffen hat: ein Schrei, der kaum hörbar ist – und gerade deshalb nicht vergeht.
Taylor Drury, Emily Castelli, Maria Giovanna Delle Donne, Dean Biosca, Reginald Lefebvre und Christopher Tandy haben diesen Schrei hörbar gemacht.
Pina Bauschs Das Frühlingsopfer: Erde, Körper, Ekstase
Pina Bauschs Interpretation von Igor Strawinskys Le Sacre du Printemps aus dem Jahr 1975 gilt ebenfalls als Meilenstein des Tanztheaters. Und es ist Pina Bauschs letztes komplett durchchoreografierte Werk.
Für ihr Opfer schafft sie eine Welt aus Erde, Schweiß und bebenden Körpern. Die Bühne, übersät mit rohem Boden, der Torf atmet wie ein lebendiges Wesen. Jeder Schritt sinkt ein, jeder Fall hinterlässt eine Spur, jede Bewegung färbt die Haut der Tänzerinnen. Es ist ein Ritualort — und was sich hier ereignet, ist keine Darstellung, sondern Transformation.
Pina Bauschs 1975 entstandene Interpretation von Igor Strawinskys Le Sacre du Printemps gehört zu den intensivsten Werken des Tanztheaters überhaupt. Es ist nicht nur Choreografie — es ist ein Ausbruch, ein kollektiver Exorzismus. Die Körper werden zugleich Opfer und Zeugen einer verborgenen Gewalt, des ewigen Kreislaufs von Leben und Opfer, der Erneuerung verlangt.
Bauschs Version unterscheidet sich von allen anderen Interpretationen durch ihre radikale theatralische Sprache und ihre kompromisslose Wahrhaftigkeit. Hier gibt es keine Abstraktion, keinen sicheren Abstand zwischen Bühne und Publikum. Die Tänzerinnen und Tänzer — Frauen in schlichten, beigen Unterkleidern, Männer oberkörperfrei, ihre Körper glänzend vom Schweiß — bewohnen eine Landschaft, die jede Illusion zerreißt. Sie führen das Ritual nicht auf: Sie leben es.
Die Erde selbst wird zur Antagonistin. Sie klammert, widersteht, verschlingt. Jeder Fall, jeder Atemzug, jedes Zusammenbrechen wird verstärkt durch das Geräusch von Erde auf Fleisch. Es ist elementar — eine Choreografie, die vollständige Hingabe verlangt.
Und doch liegt in dieser Brutalität eine seltsame Zärtlichkeit. In der Masse der Körper, die pulsieren, beben, nach Luft schnappen, zeigt sich menschliche Verletzlichkeit in ihrer reinsten Form. Bausch verwandelt den Mythos der Auserwählten — das Mädchen, das tanzen muss, bis es stirbt, um die Fruchtbarkeit der Erde zu sichern — in einen Spiegel für uns alle. Wer entscheidet über das Opfer? Was zerstören wir im Namen der Erneuerung?
In Bauschs Kosmos sind Gewalt und Schönheit untrennbar. Die Gruppenszenen, getrieben von Strawinskys gnadenlosen Rhythmen, explodieren in urgewaltiger Energie; doch der Solo-Tanz der Auserwählten durchdringt dieses Sturmgewitter mit zerbrechlicher, erschütternder Intensität. Ihr Tanz ist ein Schrei der Angst — aber auch ein Tanz gegen das Auslöschen der Selbstbestimmtheit.
Das Tanztheater Wuppertal lässt diese zeitlose Schöpfung zum Auftakt ihrer Spielzeit wieder lebendig werden. Fast fünfzig Jahre nach der Uraufführung spricht sie in eine Gegenwart, die erneut ihre Jugend opfert, um Systeme am Leben zu erhalten, die ihre Seele verloren haben — in Krieg, Wirtschaft oder Umweltzerstörung.
Bauschs Werk bleibt unvergänglich, weil es uns zeigt, dass der Körper sich erinnert, was die Gesellschaft leugnet oder vergisst. Ihre Tänzerinnen und Tänzer illustrieren keine Idee, sie verkörpern Kräfte, die unter der Oberfläche der Zivilisation wirken — Begehren, Angst, Unterwerfung, Widerstand. Das Zittern einer Hand, das plötzliche Einatmen, der Zusammenbruch eines Körpers in die Erde — wenn sich die Frauen immer wieder die Ellbogen wie Messer in die Unterkörper rammen, dann es sind keine stilistischen Gesten, sondern existenzielle Notwendigkeiten des selbstbestimmten Überlebens und der Würde.
Tsai-Chin Yu verkörperte bei der Premiere überzeugend das Opfer. Neunzehn Tänzerinnen und Tänzer der Compagnie, sowie fünfzehn Gäste, in einer Neueinstudierung von Azusa Seyama-Prioville, Barbara Kaufmann und Kenji Takagi begeisterten das Premierenpublikum mit der gewaltigen Wucht der Musik und der Choreografie.






