photos: klaus dilger

Gefallen und Fallen

In einem Studio des „Musischen Forums“, das ziemlich weit hinten im großen Areal der Deutschen Sporthochschule liegt, begrüßt Diane Elshout die fast zwanzig Besucher ihrer ersten öffentlichen Veranstaltung. „Das ist ein Experiment“, sagt sie und ist angemessen nervös. Sie ist lange schon als Choreografin und Pädagogin in Amsterdam tätig, „sehr politisch“, deutet sie später an, immer habe sie sich zwischen den Lagern oder Strömungen der Szene befunden. Eine Unerschrockene. Hinten auf ihrer kurzen Lederjacke prangt ein Strichcode. Vermutlich steht da: Ich will was bewegen. Bis Sommer 2013 ist die Niederländerin mit dem flüssigen Deutsch Gastdozentin am Institut für Tanz und Bewegungskultur, unterrichtet junge Leute aus verschiedenen Studiengängen und möchte ihnen einen Input bieten aus der großen weiten Welt des Tanzes. Die „Feldvermessungen“ bieten Reflektionen von Praktikern über ihre Arbeit und das Genre, jederzeit offen für Nachfragen. Eine schöne Idee, sie zu öffnen für Interessierte aus der ganzen Hochschule und von außerhalb (mithilfe der Tanzsociety). Vielleicht frischt es auch einen Diskurs auf, der sich, unter Profitanzleuten, oft zu schnell im Lamentieren oder in Klischeebegriffen verfängt.

Als Kennerin von Bruno Listopads Arbeit blätterte Diane Elshout in ihrer Einführung die intellektuellen Einflüsse auf, die ihn umtrieben und immer noch -treiben; er wird später einige davon noch einmal formulieren. Unterstützt von ein wenig Powerpoint, wird es bei ihr zum gescheiten und verständlichen Durchhüpfen der neueren Ideengeschichte zur Kunst, von Marx, Duchamp, Freud, über Popart, Brecht, Artaud, Butoh, bis Guy Debors „Gesellschaft des Spektakels“, Baudrillards „Simulacrum“ und André Lepeckis „Exhausting Dance“. Markt, Kunst, Leben, alles nicht so einfach, deshalb ist ihre Beziehung ideologieanfällig, woran sich dann wieder Kritiken abarbeiten. Die anwesenden Choreografinnen beklagen die Diskrepanz zwischen „ich befriedige, was ein Markt sehen will, also Veranstalter, Theaterleiter“, und „ich bleibe mir treu“.

Bruno Listopad ist sich offenbar immer treu geblieben, indem er unerbittlich sein Tun in Frage stellte. Diese Strenge, fast ein Leiden, merkt man ihm an, als er nun im zweiten Teil der Veranstaltung von seinem Werdegang und seinen Werken berichtet, meist dann, wenn er Gedanken theoretisch bündelt. Ansonsten ist der schmale, schwarz gekleidete Mann, Jahrgang 1976, ein leb hafter, auch humorvoller Erzähler.

„Paradox in the house of guilt“

Aus dieser Choreographie von 2001 zeigt er einen Videoausschnitt. Es war sein erstes Auftragswerk für eine ihm fremde Company, diejenige von Krisztina de Châtel. Man sieht drei Tänzer in einer Art geschlossenem Raum, spärlich beleuchtet, ein Spiel mit Nähe, die recht unverbindlich bleibt. Mal tanzen zwei unisono eine Phrase oder sitzen nebeneinander, dann geht wieder jeder seiner Wege, oft am Boden, oder sie stupsen einander an der Kniekehle oder fassen einen Fuß, der andere nimmt einfach den Impuls auf, die Arme formen Bogen wie im klassischen Ballett, zuweilen sind Beine und Arme auch gestreckt und rotieren schnell. Hochvirtuos, mit Forsythe-Anklängen, gespannt ins Große und mit fast sanften Details, superwendig mit ungewöhnlichen Pirouetten. Irgendwie richtungslos. Noch nie habe er den seltsamen Titel erklärt, zögert Listopad auf Diane Elshouts Frage hin. Eine persönliche Sache: In dem Theater fühlte er sich paradox; als widersprüchlich erfuhr er den Service und die Strukturen dort. „Das Haus der Schuld ist aber eigentlich der Körper“, der christliche Anklang sei durchaus gewollt hier, aber mehr wolle er nicht sagen.

Das Kind Bruno begann mit fünf oder sechs Jahren zu tanzen. „Eher nicht zu Musik“, erklärt er jetzt, „sondern es war die Gestalt des Raumes, der Korridor“, der ihn tanzen machte. Als er mit etwa elf Jahren aufs Konservatorium in Lissabon zum ersten Tanzunterricht ging, berichtete er seiner Mutter: „Wir tanzen da gar nicht“. Den Bezug des Unterrichts zu dem, was für ihn Tanz war, fand er fragwürdig, unverständlich. Doch er blieb dabei, denn die Schule lag in einem interessanten Viertel  und war gefüllt auch mit Film-, Musik- und Theaterleuten. „Meine Schule fand außerhalb des Unterrichts statt“. Einmal wurde er zu einem sechsmonatigen Profikurs in Nordportugal eingeladen, dessen anregende Künstler ihn begeisterten. Die Schule, bei der Rückkehr, enttäuschte umso mehr, er unterbrach die Ausbildung, ging nach Cannes an die Akademie, dann nach Unna, wo er in einer Inszenierung von Heiner Müllers „Hamletmaschine“ tanzte. Mit Knochen hantierte. Regie führte Nada Kokotović, heute in Köln beheimatet. Die heftige Körperlichkeit der Arbeit beeindruckte den jungen Portugiesen sehr. In der Tanzakademie in Rotterdam gewährtem ihm die Lehrer die Freiheit, die er brauchte neben dem Schulbetrieb. Mit achtzehn, 1995, stellte er „Le Petit Chaperon Rouge“ auf eine öffentliche Bühne. Ein leeres rotes Kleid, Raum für Projektionen, Charaktere entwickeln sich, ein Spiel mit Licht und Dunkel, Struktur und Abbruch, „eine Feier es Verfalls“. Zu bombastischer Militärmusik und mit Damen auf High Heels. Ja, er sei von Pina Bausch inspiriert gewesen, sagt er, von der er mit sechzehn mal ein Stück gesehen habe.

Einmal Japan und zurück

Wollte er schon immer Choreograph werden? Er überlegt kurz. „Ich wollte tanzen. Aber nicht das, was man mich gelehrt hat.“ Er erinnert sich an den Drill am frühen Morgen, immer Dasselbe und immer nur in Häppchen. Später im Rotterdam alles nochmal von vorn, Graham-Technik etc. Mit achtzehn faszinierte ihn ein Dokumentarfilm, in dem Kazuo Ohno seine „L’Argentina“ tanzte. Der alte Mann als alte Frau. Das Ganzheitliche des japanischen Butohtanzes beeindruckte ihn, dass es dort um die Existenz, um Leben ging, „nicht als Konzept, sondern als Gewissheit“. So viel Wirklichkeit in einem Körper kondensiert, so viele Schichten, eben mehr als ein einzelner Mensch. Dadurch dass er später in Japan Unterricht nahm, wurde Listopads Kontakt zum Butoh distanzierter. Denn ein Nippen kann nur oberflächlich bleiben, merkte er. Doch der verkrümmte und verzerrte Körper, das Expressionistische, kombiniert mit dem Akademischen, prägte Listopads Bewegungsideen und -recherchen weiterhin.

Zunächst ging der Choreograph bei seinem Stücken von Themen aus, einmal war es das berühmte Foto eines weinenden Mannes, das er als Postkarte in einem Museum fand. „Jesus loves you“ nannte er das Duett, später machte er ein Quartett daraus, noch abrupter und intensiver. Thema: fall and failure. Fallen und Scheitern. Zerbrechende Beziehungen. Disfunktionen. Der „Jesus“ war als eher banaler Trostspruch gedacht. Als nach einer Aufführung eine junge Frau in Tränen zu ihm kam, fühlte er sich schlecht und begann Stücke mit weniger Affekten oder Themen zu choreographieren. „Nie habe ich wirklich die Beziehung zwischen Inhalt und Form, zwischen Innen und Außen finden können. Da war immer eine Lücke, das fühlt sich wie Scheitern an“, sagt er. Diesen Spalt würde er nie füllen können, merkte er und thematisiere nun diese Unmöglichkeit. Die Unmöglichkeit etwa, die Erfahrung der Tänzer direkt ans Publikum zu vermitteln. Die Brüche, die er als Künstler in Institutionen und Theaterstrukturen erfuhr.

Give them space

Er zeigt kurz eine Aufzeichnung von „Spectatorship“ von 2009. Drei Tänzer fuhrwerken auf der Bühne mit Zeug herum, Seilen, Folien, verheddern sich, vor allem haben sie keine Gesichter, nur Zottelperücken und Gummimasken. Das sei eine Frage an die Ökonomie des Spektakels gewesen, erklärt Listopad, also an Virtuosität, Stil, Marke, „an den Markt, den ich bediene in den Niederlanden“. Wäre er dem Bild, das sich andere inzwischen von ihm machten, loyal geblieben, hätte er sich wie eine Marionette gefühlt. Das hätte ihm genutzt, aber auch geschadet. Wieder das Paradox. Also habe er das Gemachte wegmachen wollten, „de-skill, de-school“. Verlernen, Vertun. Bis an die Grenzen des „Systems“, seines Arbeitsfeldes und der Institutionen gehen, und würde es trotzdem noch Geld dafür geben? Ist das Tanz?

Listopad erklärt, wie er im Anschluss an Jacques Rancières Kritik am paternalistischen Gestus der Theaterreformer Brecht und Artaud dem Zuschauer von „Spectatorship“ alle Freiheit der eigenen Gedankenaktivität geben wollte, indem er jede Referenz vermied. In einem anderen Stück hatte er das Verstehenwollen und -machen durch Übertreibung parodiert. Er sieht seine Werke als Experimente darin, eben nicht eine Ästhetik zu bestätigen, sondern „für den Raum des Künstlers zu kämpfen, dass er weiter forschen kann“. Immer gehe es es um „displacement and resisting“, ums Transformieren. „Tanz ist doch per se die Beziehung zum anderen“. Jenes Gerümpelstück erschütterte durchaus den Tanzmainstream in den Niederlanden, erwähnt er. Das tanzferne Publikum kam aber neugierig. „Kunst hilft, Menschen von Klischees, von dogmatischen Denkweisen zu befreien“. Doch weil diese Befreiungen ihrerseits nach einer Weile erstarren und Struktur werden, müssen sie dauernd neu gefunden werden.

Ein anstrengendes Gebot. Es wird genauso scheitern wie die armen Klischees, die ja nur von einer begrenzten Anzahl von Leuten geteilt werden. Den anderen sagen doch ihre Verzerrungen nichts. Oder sagen sie ihnen etwas anderes? Der anregende Abend im „MuFo“ war da schon zuende.

Das nächste „Mapping the field – Feldvermessung“ findet statt am 13.12.2012