GESPALTENE PERSÖNLICHKEIT

Nachtkritik von „Revisiting Wonderland“, dem neuen Tanzstück der Bonner  CocoonDance COMPANY

Von KLAUS KEIL

Wohin nur, so fragt man sich angesichts der Computeranimation des rudernden Rabbits, der kleiner werdend am Horizont verschwindet, wohin nur rudert dieser Hase? Wenn er nach einer Stunde zurückkehrt, wissen wir es. Er kommt zurück aus einem einstündigen Nightmare des Unterbewusstseins namens Wonderland mit all seine Bedrängnissen, Ängsten und Verführungen, wohin Choreografin Rafaele Giovanola und Dramaturg Rainald Endraß Alice noch einmal mit ihrem neuen Tanzstück „Revisiting wonderland“ geschickt haben.

Und dieses Wunderland ist alles andere als ein Traumland.

Genau genommen war es schon beim Verfasser des Romans, Lewis Caroll, kein angenehmer Traum, auch wenn dort die Bezüge zum Unterbewussten oft satirischer, auf jeden Fall aber subtiler auf die vielen Figuren, Tiere und Charaktere, denen Alice begegnet, verteilt sind. Kein Wunder also, dass bald nach Erscheinen des Romans vom Alice-im-Wunderland-Syndrom die Rede war. Damit wird ein Syndrom bezeichnet, bei dem Menschen sich selbst oder ihre Umgebung auf halluzinatorische Weise verändert wahrnehmen.

Da Lewis Caroll unter Migräne gelitten hat (einem Auslöser des Syndroms), geht man davon aus, dass seine Leidens-Erfahrungen  Ausgangspunkt für die in seinem Roman beschriebenen halluzinationsähnlichen Effekte waren. Nicht bewiesen ist, dass der Roman unter dem Einfluss bewusstseinsverändernder Drogen zustande kam. Immerhin verändert  Alice in einer der bekanntesten Sequenzen des Buches ihre Größe, ist mal groß, mal klein, und isst gar einen Pilz, der diese Zustände auslöst. Eine Szene im Tanzstück beschreibt diesen Moment. Damit verschwimmen bei Alice die Grenzen zwischen Traum und Realität, zwischen Erleben und Träumen, ganz wie in dem Tanzstück „Revisiting Wonderland“, das dieses Syndrom als Inspirationsquelle für eine fast schon tiefenpsychologische Studie aufgreift. Hier steht Alice allein auf der Bühne, verkörpert also in einer Person alle Begegnungen – oder begegnet sie nur immer wieder sich selbst? Alice, eine gespaltene Persönlichkeit?

Für das Team Giovanola/Endraß ist das Thema eine Steilvorlage, denn genau diesen Hintergrund veränderter Wahrnehmung spiegelt die Inszenierung. Wie kaum eine andere Companie wagen sich die beiden Tanzschaffenden immer wieder an kompliziert wirkende Themen und Fragestellungen, um sie in ihren Inszenierungen auf ihren Kern zu reduzieren und dem Zuschauer auch noch anschaulich in der Form von Bewegung und Tanz verständlich zu machen. Selten wird Tanz so sprachgewaltig wie bei CocoonDance.

In Zusammenarbeit mit dem Filmemacher und Animationskünstler Simon Rouby und dem Komponisten Jörg Ritzenhoff inszenierte die Choreografin Rafaele Giovanola aus diesem Plot der Wahrnehmungsverzerrung ein spektakuläres Gesamtkunstwerk aus Live-Animation, Sound-Collage und Tanz. Auch wenn Laure Dupont als Alice und ihr Tanz im Vordergrund stehen, ist es doch Simon Rouby, der mit seiner ungewöhnlichen Animationstechnik Alice ihre Vielschichtigkeit verleiht. Mit Laser- bzw. Lichtlinien zeichnet er die Konturen der Tänzerin in verschiedenen Bewegungsmomenten nach, scannt das Ganze und bringt es in anderen Momenten und Bewegungszusammenhängen wieder auf die Bühne. Das erzeugt den Eindruck, als würde die Tänzerin manchmal regelrecht aus ihrem realen Körper heraustreten. Aber es erzeugt auch den umgekehrten Effekt, als würde sie sich in unbekannte Formen und Sphären zurückziehen, um ihren Ängsten auszuweichen.

Eine Szene sticht in ihrer anschaulichen Darstellung der psychedelischen Wahrnehmungsverzerrung besonders stark heraus. Geradezu grandios verschmelzen Tanz und Animation, wenn Simon Rouby die äußere Form der Tänzerin mit seinen Lichtlinien scannt und diese zu einem aufbegehrenden Tanz ansetzt, während hinter ihr das gescannte Profil zu einem Eigenleben erwacht und sich vergrößert, verkleinert, wie ein Dämon über die Tänzerin streckt und dabei die Grenzen von Realität und Fiktion verschwimmen lässt: ein Körper in innerlicher Aufruhr.

So entfaltet sich auf der Bühne ein geradezu rauschhaftes Geschehen, das von den grandiosen Sound-Collagen des Komponisten Jörg Ritzenhoff noch verstärkt wird. (Für Jörg Ritzenhoff handelt es sich hierbei jedoch  “ … nicht um eine collage, sondern ganz im gegenteil um eine art akustischer fotografie – hier ist EIN raum abgebildet und ins publikum hinein gespiegelt“*)
Feste Schritte und metallische Arbeitsgeräusche in dumpfen Klangnebeln suggerieren handfestes Zupacken:  Arbeit an der Psyche. Doch wer das alles ebenso anschaulich wie überzeugend in Tanz und Bewegung umsetzt, ist allein die Tänzerin Laure Dupont. Sie sorgt für die erforderliche Rückkopplung zum Thema und zur Bühnenrealität und setzt dabei so feinfühlig, so betroffen, so verzweifelt und dann wieder so hoffnungsvoll Giovanolas fein austarierte Choreografie in Bewegung um. Laure Dupont ist Alice im Wunderland –  aber dann doch wieder nicht, denn ein Stück von Alice kann in jedem von uns stecken.

„Revisiting Wonderland“  ist eine ebenso gewagte wie mitreißende Inszenierung, bei deren Wechselspiel  von animierter Bewegung und realem Tanz man gelegentlich die Orientierung verlieren kann. Das Stück ist ein großartiger Abschluss für ein großartiges Solo-Tanzfestival, das nun bereits zum fünften Mal Solisten aus aller Welt nach Bonn gebracht hat. Noch heute und morgen im Theater im Ballsaal in Bonn-Endenich zu sehen. Unbedingt hingehen!

*Diese Anmerkung von Jörg Ritzenhoff, die wir Ihnen nicht vorenthalten wollten, erreichte uns nach Veröffentlichung des Artikels. Nächste Aufführungen am 26. und 27.Juni im Theater im Ballsaal!