Atlas 3 blu blu blu

Der letzte Teil der Atlas-Trilogie der in Köln beheimateten Emanuele Soavi incompany

Eigentlich sollte sie am 26.März in Köln zu sehen sein, die Köln- und NRW-Premiere des Dritten Teils von Emanuele Soavi’s Atlas-Trilogie mit dem Titel „blu blu blu“… Wir hatten das grosse Glück, dass Thomas Zieler die Premiere am 28.02.2020 im LOFFT-THEATER Leipzig für uns gesehen hat:

Nachtkritik von Thomas Zieler

Die Spielfläche auf der Bühne im neuen LOFFT in der früheren Leipziger Baumwollspinnerei ein Rechteck, ein rechter Winkel nach vorn gerichtet: Judomatten auf weißem Grund. An der dem Zuschauer gegenüberliegenden Seite zwei weiße rechtwinklige Wandteile, die jeweils drei Viertel der hinteren Seiten der Spielfläche begrenzen, ganz links und ganz rechts Platz lassend für die Musiker: der eine Teil steht auf dem Boden, der andere hängt. Diese geteilte Rückwand dient auch als Projektionsfläche für die Videos. Dazwischen bleibt ein Riss, in dem vor einem schwarzen Hintergrund Kopf, Hals und Brust eines dahinterstehenden Menschen sichtbar werden können. Mit dieser Raumlösung greift Heike Engelbert (Bühnenbild und Kostüme) das Thema des Abends auf: zwei Teile, voneinander getrennt und dennoch ein Ganzes bildend. Gegensätze auch in den Farben: Schwarz und Weiß. Nur wenige andere Farbtöne: die olivgrünen Bodenmatten, das beigefarbene Shirt, das zuerst die Tänzerin trägt – später tauschen die Darsteller die Oberteile ihrer Kleidung.

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Bereits kurz vor Beginn erscheinen die beiden Tänzer im Video. Das Abbild ihrer Körper geistert, dem Negativ eines Fotos gleich, über die Rückfront des Raumes (Video: Meritxell Aumedes Molinero). Dann ein Violinakkord, elektronisch bearbeitet und weiterentwickelt. Der Tänzer (Federico Casadei) steht dem Musiker (Johannes Malfatti/elektronische Musik) gegenüber. Die drei den Abend prägenden Elemente, Tanz, Musik und Video, sind eingeführt. Am Boden liegend spielt Casadei ein Erwachen, ein In-Bewegung-Geraten, eine Art Geburt. Urknallartig in die Welt geschleudert, Dasein-Müssen und Bewusstwerden. Lernen durch Erfahrung, durch Ausprobieren. Er steht auf, und es ist, als gehorchten ihm seine Gliedmaßen nicht, als drängten sie in Richtungen, die sie selber bestimmten und nicht er, als verweigerten sie sich der Steuerung durch den Kopf: eckig, spastisch, ungelenk. Er scheint über seine Bewegungen verwundert: was Arme so alles treiben können, sie zerren auch an seinem Shirt und bedrohen ihn gar. Erst allmählich findet der ganze Körper zusammen mit den Armen seinen eigenen Ausdruck. Im schwarzen Riss taucht die Tänzerin auf (Lisa Kirsch). Sie beobachtet die Bewegungen des Mannes, der spürt, dass er nicht mehr allein ist. Er wird selbstsicherer, fast stolz, seine Bewegungsform gefunden zu haben. Er präsentiert sich der zuschauenden Frau, die sich abwendet, sich zu verhalten sucht, ungeduldig hin- und herlaufend, und schließlich eine Grenze übertritt. Sie mischt sich ein.

In dem Moment, als Kirsch die Spielfläche betritt, wird der Klang der Barockvioline hörbar (Nadja Zwiener). Die Tänzerin stoppt den immer selbstverliebteren Tanz, berührt den Körper des Mannes. Die Geigerin spielt Johann Sebastian Bachs Chaconne aus der Partita BWV 1004 für Violine solo. Dieses Musikstück, das Bach 1720 im Gedenken an seine verstorbene Frau Maria Barbara schrieb, bildet die musikalische Grundlage des Abends. Nadja Zwiener lässt ihr Instrument von 1723 förmlich erstrahlen. Ihr Spiel ist teils tief verinnerlicht, teils virtuos lebendig. Mehrfach wird die Geigerin später selbst zur Darstellerin, begegnet beispielsweise der Tänzerin: zwei Frauen mit völlig verschiedenen Ausdrucksmitteln. In der Musik der Chaconne finden die beiden Tänzer zu einem Miteinander, mal lyrisch, mal einander fordernd. Kirsch und Casadei tanzen hoch konzentriert und in enger Partnerbeziehung, teils in atemberaubendem Tempo wie Nähe und Entfernung einander abwechseln, Miteinander und Vereinzelung sich ablösen, Einklang und Konflikt einander ergänzen und gleichzeitig im Widerspruch zueinanderstehen: Berührungen mal zart, mal heftig, plötzliches Auseinanderdriften, Abstoßen und Anziehen, das Eigene suchend und schließlich wieder das Gemeinsame.

ATLAS-3-Emanuele-Soavi-incompany-Foto-Joris-Jan-Bos

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Die Tänzer im Video nackt, die Berührungen auf der Haut, Entdecken, Streicheln und Kneifen. Die beiden Darsteller halten einander im Arm und schauen ihrem Video zu. Mehrfach brechen sie aus, als erschreckten sie über sich selber, über die Berührungen, als hielten sie sich und ihre Nähe nicht aus. Im Video verblüffende Perspektiven: Mal kriecht er wie eine Schnecke über die Frau, später das Spiel ihrer Zungen und wie sich ihre Gesichter vermischen zu einem und wieder auflösen in das Gesicht des Einzelnen.

Dem ersten Abschnitt am Boden folgt eine schwebende Phase, in der alles luftig leicht ist und mühelos gelingt. Die Tänzer gleiten förmlich auf einer sich rauschartig steigernden Klangwelle aus übereinander geloopten Akkorden und Melodiebögen der Violine. Hier spätestens muss auch die Partnerbeziehung der beiden Musiker hervorgehoben werden, quer über die Bühne mit kleinen, unaufdringlichen Gesten, ein wunderbares Zusammenspiel. So findet Emanuele Soavi (Choreografie und Idee) für sein Konzept, sich mit der Beziehung des Körpers zur Welt auseinanderzusetzen, auf verschiedenen Ebenen überzeugende Entsprechungen. Mit seinen vielfältigen künstlerischen Mitteln gelingt es ihm, Gegensätze zu behaupten und sie wieder aufzulösen. Im überwiegend modern geprägten Tanz lassen sich Spuren klassischer Elemente entdecken, der Klang der Barockgeige steht elektronischen Sounds gegenüber und vereinigt sich mit diesen, das Video zeigt die Tänzer, die Tänzer reagieren auf das Video, das sie zeigt, Tänzerin und Tänzer, Musikerin und Musiker. Allein und ein Paar. Ich und Du. Leben und Vergänglichkeit. Und schließlich zwei Judoka in blauer Judokleidung: Es geht nicht ohne den Anderen. Das Ich braucht ein Du. Der Kampfsport wird zu einer Choreografie, die einsehbar macht, wie die beiden gegeneinander kämpfen und gleichzeitig aufeinander angewiesen sind, wie sie Regeln und Rituale achten, um einander zu schützen.

ATLAS-3-Emanuele-Soavi-incompany-Foto-Joris-Jan-Bos

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Das Intermezzo der beiden Judoka (Tobias Mathieu und Aaron Schneider) im blauen Licht, das die Extreme zusammenhält, wie am Lebensmittag, wenn die Midlife Sonne hoch oben im Zenit steht.

Emanuele Soavi findet für seine Tänzer eine eigene Formensprache, die auch komische Momente nicht ausspart: beispielsweise wenn die Darsteller versuchen, die Griffe der Judoka für sich anzuwenden, wenn sie fragend zur Geigerin schauen, da das Musikstück zu Ende ist, oder sie anzuflehen scheinen, doch aufzuhören mit ihrem Spiel, damit sie ihren kräftezehrenden Kampf miteinander beenden können. Einmal legen sie der Geigerin Notenblätter auf den Notenständer und reißen sie ihr wieder weg.

Die folgenden lebensnachmittäglichen Fragmente variieren noch einmal den Kampf des Paares, jetzt härter, unversöhnlicher, bisweilen brutal. Die Gefährdung des Lebens, seine Vergänglichkeit wird zum Thema. Einmal liegen die Tänzer auf dem Boden und scheinen sich unter Schmerzen zu quälen. Der Tod zeigt auch mitten im Leben seinen Schatten. Nadja Zwiener umschreitet die beiden sich windenden Körper, ihre Barockvioline spielend, Johannes Malfatti stützt die Szene mit Orgelklängen. Der Fall des Menschen setzt ein, sein Abstieg. Die aus den Fugen geratene Maschine tritt auf den Plan, sie, die ja vom Menschen geschaffen wurde: die Tänzerin in den Fängen der zerstörerischen Wucht des Aggregats, nahezu gefoltert von Stromstößen, in das Geratter der Maschine mischt sich Schlagwerk, Schüssen gleich. Malfattis Klangwelt und Lisa Kirschs eindringliche Darstellung machen die Szene beklemmend. Sie müht sich, gegen die Maschine zu bestehen, und schafft es schließlich mit Hilfe ihres Bühnenpartners, wieder zu sich zu finden. Beide zitieren ihre Bewegungsformen vom Beginn.

ATLAS-3-Emanuele-Soavi-incompany-Foto-Joris-Jan-Bos

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Am Ende reißt sie zwei Judomatten vom Boden. Beide treten in den entstandenen schwarzen Winkel, kommen auf den Boden der Tatsachen. Der kann das enge Heim genauso sein wie das Grab. Ihr Miteinanderkämpfen gerät immer mehr zum unkontrollierten Gezerre. Da hilft am Ende nur noch auszusteigen. Der Darsteller kann dem tödlichen Spiel noch entkommen: Federico Casadei verlässt die Bühne. Lisa Kirsch versucht noch einen Moment, sich allein zu behaupten, überlässt dann aber doch das unvermeidliche Zugrundegehen lieber der Phantasie der Zuschauer und geht ebenfalls. Im Video fließen Tränen. Auch die Musiker verlassen das kläglich-unausweichliche Geschehen. Ein Ton bleibt.

Ein Tanzabend auf artifiziell höchstem Niveau und dennoch nicht abgehoben vom Zuschauer. Der kann mitvollziehen, erleben, fühlen, sich selbst erkennen im Bühnengeschehen, eine Erfahrung mitnehmen, wenn er schließlich hinausgeht und sich im Spannungsfeld von Ich und unübersichtlicher Welt wiederfindet. Man kann dem tanzinteressierten Publikum nur wünschen, dass es nach der Corona-Krise noch zahlreiche Gelegenheiten geben möge, sich diese bemerkenswerte Tanzproduktion anzuschauen.

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