Crazy statt Klassik

Festival Tanz NRW zeigt: „Step By Step“ vom Ballett am Rhein und dem Tanzhaus NRW als Online-Aufführungen

Von Nicole Strecker

Das ist mal eine Fusion zweier Unternehmen, die richtig freut: Drei Kompanien des Tanzhaus NRW, die dort derzeit als „Residenzkünstler*innen“ besonders promoted und gefördert werden, entwickeln jeweils eine Arbeit mit dem Ballett am Rhein. Freie Szene trifft hochsubventioniertes Stadtensemble. Drei konzeptionell arbeitende Choreograf*innen und Kollektive bekommen als „Arbeitsmaterial“ hochgetunte exquisite Ballettkörper, in denen jede Faser nach tanzen-tanzen-tanzen drängt. Was einen von den drei Choreografen, Alfredo Zinola, offenbar so irritiert, dass er lieber nur mit ihnen redet.

Balletttänzer*innen als Dressurpferdchen?

Zinolas Stück „Das ist kein Stück“ ist ein inszeniertes Interview, in dem der Stück-Chef zwei im Queer-Look aufgetakelte Tänzer aufdringlich zu ihren Körpern befragt: „Rasierst Du Deine Intimzone vor einem Auftritt?“ „Nutzt du die Tanztechnik beim Sex?“ Und vor allem: „Ist dein Körper ein Objekt?“ Die beiden Ballett-am-Rhein-Tänzer bleiben cool. Alfredo Zinola selbst ist es, der ins Trudeln gerät und an seiner Rolle als dreister Moderator noch dringend arbeiten müsste. So verrät diese Konzept-Tanz-Vignette letztlich vor allem etwas über Zinolas skeptische Haltung gegenüber der Tanzform ‚Ballett‘. Als würde nicht auch in dieser Stilrichtung längst von vielen Choreografen die „Werkzeug“-Rolle der Tänzer reflektiert! Und als hätten Balletttänzer immer noch ausschließlich die devote „Dressurpferdchen“-Mentalität wie zu Zeiten eines George Balanchine. Wie gut, dass die BaR-Tänzer*innen ihren Regisseur Zinola ein bisschen auflaufen lassen und zeigen: So leicht zu manipulieren sind die klassischen Tänzer*innen dann doch nicht.

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Lust auf die Dämonen

Trotzdem: Man lauscht gebannt bei diesem „kein Stück“, das im Gedächtnis bleibt, weil es einen schönen Tupfer setzt in der Überfülle an choreografischen Miniaturen, die die beiden Programme „Step By Step“ boten. Denn neben den drei Residenzkünstler*innen des Tanzhaus NRW, durfte sich auch ein Teil der Ballet-am-Rhein-Tänzer*innen als Choreograf*innen ausprobieren. Zwölf Kurzstücke an zwei Abenden sind so entstanden. Auf die klassische Technik hatten dabei die wenigsten der Newcomer Lust. Stattdessen: große Begeisterung für die inneren Dämonen, das Ungezügelte, Schmutzige in uns. Für das, was unter der betörenden Firnis von Schönheit, Disziplin und Körperkontrolle der Ballerinen und Ballerinos liegt.

Nixen, Hexen, Amazonen

Im Frauentrio von James Nix bedecken pompöse Reifröcke die Unterleiber, die Oberkörper sind nackt wie die von Nixen. („Nix inszeniert Nixen“ – sorry, aber der Kalauer war wohl sein Kalkül). Halb sind sie gezähmte Kreatur, halb barbusige Verführerinnen. Sie gleiten über die Bühne wie elegant-artige Aufziehpüppchen. Bis sie mit einem Ausatmen zu Boden sinken und dann mit ekstatischem Headbanging, Armschwüngen, spitz in die Luft gerammten Ellbogen ihre geheime Frauenpower feiern. Tschakka – so ist das Weib. Dieses mystische Frauenbild mag zwar in Zeiten exzessiver identitätspolitischer Debatten wie aus einer anderen Welt kommen, funktioniert aber als choreografische Miniatur zwischen tiefem Ernst und Erotik.

Überhaupt sind es immer wieder die Frauen, die an diesem Abend die Revolte wagen. Im schwarz-weiß gedrehten Film-Dreiteiler von Wun Sze Chan findet sich eine Gruppe Frauen zum harmonisch körperbefreiten Reigen als wär’s ein untoter Isadora-Duncan-Trupp. Und tatsächlich lösen sich im dritten Teil die Körper kunstvoll in Licht- und Schatten-Schemen auf wie ein Spuk.

Am eindruckvollsten gelingt Yoav Bosidan die Inszenierung weiblicher Selbstermächtigung. „Yente“ heißt seine Miniatur. Vielleicht eine Anspielung auf den Namen der Heiratsvermittlerin im Musical „Fiddler on the Roof“. Gegen solche Traditionen und die damit verbundenen weiblichen Klischeevorstellungen scheinen nun die sieben Frauen in Bosidans Choreografie kraftvoll aufzubegehren. In langen, sandfarbenen Kleidern, die Haut schmutzverschmiert als wären sie Pina Bauschs „Sacre“ entlaufen. So marschieren sie stampfend auf. Der Boden bebt. Gegenlicht blendet. Sie sacken attackenbereit in Sumo-Ringerposen, fliegen in Actionheldinnen-Drehungen durch die Luft, tapsen mit durchgedrückten Gelenken über die Bühne wie Zombies. Sie sind alles, was gefährlich, wild und drastisch ist. Alles eben, bloß keine Balletttänzer*innen, lautet die Devise. Stattdessen die Wutlust wie man sie aus dem israelischen Tanz kennt und die einfach immer aus den Socken haut. Selbst beim lümmeligen Streaming vorm heimischen PC.

tanzhaus-nrw-Ballett-am-Rhein_Nutrospektif-für-STEP-BY-STEP_Foto-Daniel-Senzek

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Achtsamkeits-Horror

Es ließe sich noch viel sagen über Stücke, die queeren Spitzentanz ausprobieren (Emilia Peredo Auguirre) oder einfach nur pure Lebenslust und Bewegungsfreude feiern (Niklas Jendrics, Charlotte Kragh, Marjolaine Laurendeau). Über neues Pathos in Pandemiezeiten (Doris Becker, Reut Shemesh) und eine fein musikalische Brahms-Romanze mit bös-ruppigem Ende (Neshama Nashman). Ganz ausgereift ist keine der Arbeiten, und gelegentlich ist man von den vielen choreografischen Tastversuchen schon ein bisschen erschöpft – wie sicher auch die/der Leser*in an dieser Stelle der Kritik. Aber: zwei noch!

Zwei Stücke sollen noch hervorgehoben werden. Da ist Daniel Smith, der es als einer der wenigen mit Humor probiert. Schon der Titel ist eine Pointe: „Self-Scare“. „Self-Care“, die Selbstsorge, das lernten wir in den letzten Monaten, sei in Coronazeiten ja ganz besonders wichtig. So probiert sich der Held auf Smiths Bühne in Achtsamkeitstraining mit einem Online-Yogakurs. Das Tutorial beinhaltet allerdings auch seltsame Instruktionen wie in einen riesigen blauen Donut zu beißen und endet schließlich doch mit dem titelgebenden „scare“. Konkret: dem Horror pandemischen Irreseins. Eine Choreografie des virulogischen Flippens also – sehr amüsant.

Da steppt der … Ballerino

Und schließlich: „Ocean Notion“. Das beste Stück was die anfangs erwähnte Fusion von BaR und Tanzhaus betrifft. Entwickelt hat es das Kollektiv „nutrospektif“, die Girlsgang des Urban Dance, gemeinsam mit drei männlichen Tänzern des BaR. „Ocean Notion“ sei kein Stück, erklärt „nutrospektif“ vorab. Sie hätten einfach zwölf Stunden gemeinsam verbracht und Freestyle-Konzepte auf der Basis des Urban Dance ausgetauscht. Es mag kein Thema geben, einen dramaturgischen Flow hat die Kurzchoreografie aber schon. Wie die zwei Frauen und drei Männer nun gemeinschaftlich durchs Whacking, Vogueing, Breaking cruisen ist schlicht atemberaubend. Da hat der Transfer zwischen den Institutionen bestens funktioniert: „nutrospektif“ kann ihre Styles an technisch grandiosen Tänzern ausprobieren und die BaR-Tänzer – explodieren. What the Funk!