Das Fremde hat kein Gesicht

Tanzwerke Vaněk Preuß streamen aus der Bonner Brotfabrik mit „Hic sunt Leones“ befreiend Befremdliches

Nachtbesprechung von Rico Stehfest

Es beginnt mit einem roten Luftballon, dem Symbol sonnenbeschienener Kindheit. Das gilt gleichermaßen für Steven Kings „Es“ wie auch für die neue Arbeit der Tanzwerke Vaněk Preuß. Und jener Luftballon bleibt nicht die einzige Parallele zwischen den beiden Universen.

Die Löwen aus dem Titel, die gedachte Zuspitzung des Animalischen, lassen hier eine ganze Weile auf sich warten.  Der rote Luftballon macht zunächst Platz für einen schwarzen Reifrock. In ihm steckt Angie Taylor, die MC des Abends, gekrönt von einem überbordenden schwarzen Federkragen, der Lady Gaga vor Entzücken aufseufzen ließe. Angie Taylor ist nicht nur als musikalische Performerin Teil des Ganzen, sie lässt mittels ihrer launenhaften Klangspielerei die drei Performer auf der Tanzfläche ganz nach ihrem Gusto für sich springen. Sie quält das Akkordeon und skandiert dabei in trockenem, totem Ton John Lennons „Imagine“. Tatsache, hier gibt es wirklich keinen Himmel, wie sich später herausstellen wird. Da helfen auch all die anderen Luftballons  nichts.

Die gekonnt als Vermittlungs- und Erzähldistanz eingesetzte Kamera zeigt einen schrägen Jahrmarkt, einen Ausverkauf der letzten Dinge. Da wird gehustet, gelacht und geschwiegen, weil es zu mehr nicht mehr reicht. Nora Vladiguerova, Tobias Weikamp und Dwayne Holliday sind die Performer, aber weit davon entfernt, als Menschen zu agieren. Sie sind vor allem Rücken, Muskeln, die mit dem Licht spielen. Sie sind ohne Kopf, sie hocken am Boden und lassen nach dem Takt der Soundfricklerin fiebrig die Arme zucken. Mal gelingt kontrollierte Synchronität, dann wieder bleibt es bei Versuchen der Gestikulation in wörtlicher Schräglage. Ohne Köpfe, in der Rückansicht, bleiben sie „blind“, ohne Individuation und befremdlich entfremdet. Verstörend drängt sich die Frage auf, ob sie noch keine Menschen oder keine Menschen mehr sind.

Hic-Sunt-Leones©Günter Krämmer

Hic-Sunt-Leones©Günter Krämmer

Langsam wachsen diese drei Wesen graduell in die Höhe, ein angedeuteter evolutionärer Prozess, der mit dem hier bitter verhöhnenden Kinderlied „if you’re happy and you know it, clap your hands“ eine Portion gesunden Sarkasmus aus der Ecke winken lässt.

Bis zu jenem Moment. Treibende Techno-Beats hetzen den langsamen und geschmeidigen Bewegungen der Performer davon, bis sie ihre Köpfe heben und sich zur Kamera hinwenden. Clowns. Böse, angsteinflößende Clowns. Da ist er wieder, Kings Pennywise, die Fratze von der dunklen Seite. Und jetzt, da sie nunmehr erkannt sind, schwelgen sie in dionysischem Reigen, die, die jetzt den Namen „Clown“ tragen, als Identifizierte, aber nicht zugeordnete, sondern geradewegs ausgewiesene Charaktere. Damit erschließt sich der Titel, der mit „Hier sind Löwen“ exterritoriale Gebiete auf Landkarten zu bezeichnen pflegte. Dort sind sie, „die Wilden“, die Anderen. Dort, außerhalb der Grenzen, lauert Es. Dabei nützt es bekanntlich nichts, dem Fremden ein Gesicht zu geben. Es lässt sich, als solches, nicht unter Kontrolle, also nicht innerhalb der eigenen Grenzen bringen.

Genau das scheint diesen drei Charakteren bewusst zu sein. Sie zeigen eine ungebändigte Lust am Selbst, am zügellosen Miteinander. Die machen ihr Ding. Selbstreferenziell, ganz bei sich. Sie scheren sich um nichts, weil sie es nicht müssen. Sie wissen, dass sie „die Anderen“ sind. Identität ex negativo. Das lässt sie kindisch wirken, verantwortungslos. Ein bisschen darf man sie beneiden.

Ganz konsequent singt die MC irgendwann Judy Collins‘ „Send in the clowns“ und stopft jedem Performer eine Tröte in den Mund. Die ersten Versuche der Verbalisierung des Ichs müssen dadurch misslingen. Klägliche, lächerlich verzerrte Töne sind alles, was zu hören ist. Das Stumme ist besonders laut. Die weitere Evolution bleibt ihnen verwehrt, was das innere Exil zur Folge hat. Ein exaltiertes Fest als Ausdruck der Sackgasse. Das Chaos bleibt ohne Konsequenzen. Zwar zeigen die Clowns Verletzbarkeit, bleiben in ihrer Emotionalität aber unfrei: „The tears of clown, when there’s no one around“. Unter sich bleiben die drei Gestalten der Menschlichkeit entgrenzt. Sie kennen die vermeintlichen Errungenschaften der Zivilisation nicht. Sie haben nur sich. Und das Akkordeon mit dessen sich immer wiederholenden Melodien.

Durch den freien Einsatz der Kamera wird der Raum der Brotfabrik erfolgreich in seinen Dimensionen aufgelöst, das Publikum wähnt sich inmitten der Performance. Durch die Sichtbarkeit der Lichtgassen, der Technik und des Staubs auf dem Tanzboden erinnert man sich auf der sicheren Seite des eigenen Sofas, wie mühelos das Theater alle Grenzen niederzureißen versteht und den Blick auf „die andere Seite“ zulässt.

Hic-Sunt-Leones©Günter Krämmer

Hic-Sunt-Leones©Günter Krämmer