INTO THE FIELDS 2024
Das Leben eben…
HARTMANNMUELLER zeigen DEEPTALK im Theater im Ballsaal in Bonn
Nachtbesprechung von Klaus Dilger
Wer AUFGELÖST von Angie Hiesl&Roland Kaiser mit Daniel Ernesto Mueller gesehen hat, das gut ein Jahr vor DEEPTALK – Das Leben des HARTMANNMUELLER entstanden ist, wird viele Fragen mit in das Bonner Theater im Ballsaal getragen haben. Denn darin improvisierte Mueller im „aufgelösten Hausrat“ Verstorbener, auf oft sehr berührende Weise, Bruchstücke derer Leben, Stationen davon und Erinnerungen an sie. Dieses Einfühlungsvermögen ist nicht nur das eines Künstlers, denn in Muellers Biografie finden sich auch berufliche Erfahrungen als Sterbebegleiter und ganz ohne Zweifel dürfte er diese Aufgabe sehr sensibel, emphatisch und aufmerksam erfüllt haben.
In DEEPTALK kommen die beiden HARTMANNMUELLER(s) (beinahe) ganz ohne Hausrat aus. Nur einmal wird Mueller eine Holzschatulle mit Besteck fallen lassen, das in der Zeit der Großeltern noch zur Ausstattung der frisch Vermählten gehörte. Der Lärm, der dabei entstand, liess offensichtlich den Großvater erzittern, denn es löste bei ihm die Erinnerungen an den erlebten Krieg aus, vielleicht auch an Szenen einer Ehe. Doppelte Assoziationen, die das Duo ansonsten sehr sanft mit Gesten und Worten hervorzurufen versteht.
Wie immer beherrschen sie dabei das was sie tun, womit sie es tun und wie sie es tun.
Den Rahmen für ihre Performance bildet allein ein weisser, transparenter, grober Nesseltrichter, der mit einem Radius von weniger als zwei Metern mittig vom Bühnenhimmel herabfällt und dessen lang bemessener Stoff zwei Holzstühle bedeckt auf denen die beiden Protagonisten anfangs im Halbdunkel sitzend das Publikum beim Einlass beobachtet.
Himmels-Talkshow?
Dann ertönt eine Art Erkennungsmelodie und gleissend weisses Licht erhellt konzentriert die Szenerie: sehen so die Talkshows im Himmel aus?
Nein. „Willkommen im Theater im Ballsaal“, spricht Simon Hartmann, der eine HARTMANNMUELLER, ins Mikrofon und bringt damit das Publikum ganz real ins Hier und Jetzt und schafft gleichzeitig die Voraussetzung der notwendigen Distanz für ihre Performance, ganz im Stile einer Pina Bausch, die das scheinbar „Persönlichste“ mit Hilfe dieser Technik in eine „Ansage“ verwandelte.
Auch wenn wir als Publikum glauben wollen oder sollen, dass wir hier siebzig Minuten lang das Innerste und Persönlichste der beiden HARTMANNMUELLER erfahren, können wir uns zu keiner Sekunde sicher sein, dass nicht jedes einzelne Wort ein Text ist, der, genau so, beliebig oft in jeder einzelnen Vorstellung wiederholt werden wird.
Wir erleben starke Bilder, etwa wenn das Licht ganz zurück genommen wird und HARTMANNMUELLER den Trichter in eine Nabelschnur und dann in ein Embryo und schliesslich in einen Säugling verwandeln, den der eine wie der andere abwechselnd im Arm trägt bis sie sanft zu Boden gleiten und aus dem Tuch dann wenige Augenblicke später ein Leichentuch wird.
Oder wenn der Trichter zur Gebärmutter wird, aus denen die Performer in zeitlicher Umkehr als Spermien heraus tanzen, die in ihrem Bewegungsvokabular ihre späteren Eigenschaften tragen werden. Oder wenn dieser wie ein Schattenreich die Körper nur erahnen lässt und wenige Augenblicke später zum geheimen Ort der Beichte und der Lügen wird.
Es gibt Momente, in denen sich verbal Abgründe öffnen und Momente der Versöhnung und der harmonischen Öffnung, wie etwa im (Beinahe)Schlussbild, als vollkommen unerwartet ein kleiner Chor die Beerdigung der Grossmutter begleitet, während leise der Schnee rieselt und die Gräber bedeckt.
Leben eben. Und von dem wissen wir auch, dass es nicht immer spannend ist.