photos: Klaus Dilger

Der Körper als wichtigstes Erkenntnisinstrument

Die Deutsche Sporthochschule bietet über zwei Tage hinweg eine großartige Konferenz über die Bedeutung von Sprache und Bewegung
Von Thomas Linden

Die Beziehung zwischen Bewegung und Wort kann voller Inspiration sein, aber in ihr lauern auch immer die Untiefen des Missverständnisses. „Mit dem Körper kann ich etwas sagen, was die Worte nicht vermögen“, behauptet Efva Lilja. Und weil die Professorin für Tanz an der Universität Stockholm um die Grenzen der Sprache weiß, tritt sie barfuss vor ihre Zuhörer und unterbricht ihren Vortrag „Dance into Articulation“ auch immer wieder, um Bewegungen, Gesten und Haltungen zu zeigen, die unmittelbar für sich sprechen. „Der Körper drückt immer etwas aus, über 24 Stunden hinweg, die Sprache nicht“, sagt sie und gesteht sogleich, dass sie besonders das interessiert, „was wir sagen, wenn wir nicht sprechen“.

Die Schwedin war auf Einladung des Instituts für Tanz und Bewegungskultur nach Köln an die Deutsche Sporthochschule gekommen, um an der zweitägigen Konferenz „Movement in Literacy / Literacy in Movement“ teilzunehmen. Stephani Howahl, die derzeit das Institut leitet, und Gastdozentin Diane Ellshout aus Amsterdam präsentierten Gäste, die nicht alleine ihr akademisches Wissen ausbreiteten, sondern mit konkreter Lebenserfahrung für das Instrumentarium ihrer Erkenntnis eintraten. In der Deutschen Sprache besitzen wir keinen Begriff für das englische Wort „Literacy“, das über die Lese- und Schreibfähigkeit hinaus den Umgang mit Texten und Bedeutung umfasst. „Wir lesen unsere Umwelt in jedem Moment unseres Lebens, egal ob wir alleine sind oder jemandem im Gespräch zuhören“, sagt Efva Lilja und betont, dass alles, was wir wahrnehmen, eine Geschichte hat, „alles ist geworden, deshalb bewegen wir uns immer vor einem kulturellen Hintergrund“.

Eine Feststellung, die in einer Epoche, in der vor allem die Gegenwart und der sofortige Konsum hoch im Kurs stehen, gerne in Vergessenheit gerät. Die Fähigkeit, mit Bedeutung umzugehen, sie zu erfassen, ist die Voraussetzung, um diese Welt analytisch betrachten zu können. Im Zentrum der Konferenztage standen denn auch immer wieder Fragen nach der Dimension von Bedeutung. Ein Aspekt, dem sich jede Choreographie bis in die letzte Drehung hinein stellen muss. Er verlangt auch deshalb nach Konsequenzen für den Tanz, weil die Intentionen von Handlungen erforscht werden muss, damit eine Produktion Substanz gewinnen kann. Was macht eine Bewegung zu Tanz? Efva Lilja präzisiert die Frage, indem sie antwortet: „Nicht was wir auf der Bühne tun, ist von Bedeutung, sondern warum wir es tun. Wir sollten nicht etwas tanzen, das besser gesagt werden könnte.“

Tanz stellte sich während dieser zwei Tage nicht als Kunst unter anderen Künsten dar, sondern blieb in den Vorträgen, Performances und Gesprächen stets ein Medium, das essenziell zur menschlichen Existenz gehört. Eine Ausdrucksform, mit der wir uns selbst kennenlernen können, mit der sich Entwicklungspotenziale entfalten lassen. Stefanie Pietsch aus Berlin gab eine Vorstellung von der Notwendigkeit, Tanz in das Ausbildungsprofil der Pädagogen zu integrieren. Katharina Kleinschmidt von der Hochschule für Musik und Tanz in Köln beobachtete die Strukturen, mit denen Literacy von Choreographen aufgenommen wird. Johannes Bilstein von der Kunstakademie in Düsseldorf besschrieb den spezifisch deutschen Aspekt der „Bildung“ in seinem fruchtbaren Humanismus und seinen aktuellen politischen Verkrustungen. Bilstein tastete die Ränder der Sprache ab und warnte seine Zuhörer: „Trauen sie nicht den Worten. Ihre Wirkung ist beschränkt, wir brauchen ein anderes Medium für die Interpretation der Welt. Wir sind gesegnet mit der Sprache, aber wir sind auch zu ihr verdammt“. Bilstein erinnerte an Friedrich Nietzsches Erkenntnis, dass letzte Wahrheiten nicht in der Sprache, sondern nur im Körper zu suchen sind.

Andererseits wird Körpern eine Authentizität abverlangt, die voller Widersprüche steckt. Bilstein griff treffend die verklärten Vorstellungen von spontaner Sexualität auf, die leidenschaftlich und voller Herzenwärme sein soll, zugleich aber das Ergebnis eines strategischen Stimulus ist, für den Kerzchen angezündet werden und gekühlter Sekt und Schmusemusik bereitstehen. Auch im Kunstbetrieb entlarvt Bilstein den Mythos der Einzigartigkeit, indem er daran erinnert, dass wir erleben wollen, wie ein Virtuose das Letzte aus sich herausholt, das aber bitte auf der Bühne der Philharmonie am Donnerstagabend um 20.30 Uhr. Wie authentisch sind Körper, wenn sie derart abgerichtet agieren?

Eine Vorstellung von den Tiefen der menschlichen Erinnerung, in die uns Bewegung führen kann, gab die Psychotherapeutin Marianne Eberhard-Kaechele mit einem Blick auf ihre Arbeit mit traumatisierten Frauen. Opfer sexueller Gewalt vermögen oftmals auch deshalb nicht über ihre Erlebnisse zu sprechen, weil sich das Bewusstsein in der Situation des Missbrauchs aus der Einheit des Selbst löst. Um das Grauen zu überleben, darf das Geschehen nicht bis in die bewussten Bereiche der Sprache vordringen. Erlebtes kann daher nicht formuliert und mitunter auch über Sprache gar nicht in die Erinnerung geholt werden, so tief ist es in das Vergessen abgedrängt worden. Der Körper erinnert aber in der Bewegung Erlebnisse, die sich traumatisch eingeschrieben haben. Ja, er entwickelt eine eigene Sprache der Gesten, die Zusammenhänge knüpft, die den Betroffenen plötzlich wieder die Möglichkeit eröffenen, verdrängte Teile ihres Bewusstseins zu beleuchten. Marianne Eberhard-Kaechele lieferte Beispiele ihrer Arbeit mit Tüchern, die einer Patientin, die eine als Teenager erlittene gewaltsame Abtreibung durchlitten hatte, plötzlich wieder den Zugang zum vergessenen Geschehen eröffneten. Einen Situation, in der die Symptome körperlicher und seelischer Leiden für die Patientin erklärbar und damit therapierbar wurden. „Die Bedeutung des Übergriffs, nicht das Geschehen selbst“, stehen für Marianne Eberhard-Kaechele im Zentrum ihrer Arbeit. Sie muss die Zeichen des Körpers lesen bzw. Bewegung bis an jenen Punkt verfolgen, wo sie sich wieder zum Zeichen kristallisiert.

Ein intensives und enorm komplexes Angebot mit Performances und Workshops hielt die Konferenz für ihre Besucher bereit. Schon mit der Veranstaltungsreihe „Mapping the Field“ hatte die Gastdozentur von Diane Elshout fruchtbare Impulse für die Beschäftigung mit Tanz und Performance geliefert. Die Konferenz rückte noch einmal die Tatsache in den Blick, dass der Körper unser wichtigstes Erkennisinstrument ist, alles Wissen muss durch ihn hindurchgegangen sein, wenn es uns dauerhaft von Nutzen sein soll. „Literacy“ kommt eine zentrale Funktion zu, weil mit der Fähigkeit, Bedeutung zu erfassen, die Wirklichkeit und die Gesetze, denen sie gehorcht, durchschaut werden können, so dass sich uns die Chance bietet, die Welt zu lesen wie einen Text.