Premiere „NOLI ME TANGERE“ von Tanzwerke Vaněk Preuß

Die Sehnsucht der Zarah Leander oder die Einsamkeit der Aliens

Tanzwerke Vaněk Preuß schaffen mit „NOLI ME TANGERE“, in einer ausserordentlich gelungenen Formatmixtur aus Film und anschliessend direkt übertragener Gesprächsrunde, ein lange vermisstes Theatererlebnis, das die Zuschauer_innen zu umarmen verstand.

Nachtkritik von Klaus Dilger

„NOLI ME TANGERE“, die Dramaturgie des Augenblicks zwischen Tod und Wiederauferstehung, Präsenz und Absenz, Glaube und Unglaube. In seinem gleichnamigen Buch analysiert der Philosoph Jean-Luc Nancy die verschiedenen Darstellungen der Geste in dieser Begegnung zwischen Christus und Maria Magdalena: das Spiel der Hände, die Arabesken der Finger und die damit verbundenen Paradoxien des Bedeutens und des Sinns und reflektiert zugleich über das Wesen des Bildes selbst, denn auch das Gemälde verlangt Distanz.*

*frei aus dem Klappentext des Buches

Noli me tangere©Screenshot Guido Preuß

Noli me tangere©Screenshot Guido Preuß

Ebenso verhält es sich in Guido Preuß’ Film, der ebenfalls von dieser Szene inspiriert gewesen ist, wie er im anschliessenden Produktionsgespräch verrät. Auch er und Co-Kameramann Tobias Weikamp kommen mit der Kamera ihrer Protagonistin Nora Vladiguerova ungeheuer nahe, ohne sie jemals zu berühren. Dies ist das Wesen des Films. Auch vieles der ikonographisch gewordenen Gestik findet sich im gefilmten Tanz wieder, der ja selbst ein eigenes Genre darstellt, einschliesslich der damit verbundenen Sehgewohnheiten, die es immer wieder zu beachten oder zu durchbrechen gilt. Preuß und Vladiguerova erweitern diese Sehgewohnheiten, schaffen Bezüge zum Genre selbst, wenn etwa Filmmusiken entfremdet und doch wiedererkennbar zur Folie des Geschehens und der Assoziationen werden, bis hin Ridley Scotts „Alien“, der sich im Gesicht seiner Opfer festsaugt.  Folgen wir Preuß und Vladiguerova, dann bleibt uns in Zeiten von Corona nur das eigene festsaugen an uns selbst. Wir folgen ihnen, ihren Ausbruchsversuchen, die der Filmschnitt geschickt verwebt, durch sich öffnende Türen, Reflexionsflächen in denen sich verdoppelt und verloren wird und durch Fenster in die gewollte Unklarheit, wie der Tanz-Film im Nachgespräch benannt wurde. Der Weg in die Selbstberührung, Selbstverschränkungen, wie sie die Arbeiten von Tanzwerke Vaněk Preuß oft kennzeichnen, scheint unausweichlich.  So taumelt die Protagonistin und wir durch innere Landschaften der Romantik, real erscheinende ausser galaktische Wüsten in Gestalt des Dachs der Brotfabrik und drehen uns im Dreivierteltakt in zerfallenen Duschräumen. 

„Wir tanzen alle auf einem Vulkan…. Walzer?“ wird später jemand im Chatroom schreiben, der das Publikum ganz nahe an das Theatergeschehen rückt, das hier aus dem facettenreichen Wiedererleben des Gesehenen besteht.

Noli me tangere©Screenshot Guido Preuß

Noli me tangere©Screenshot Guido Preuß

Fünf Kameras und die Chat-Funktion des Live-Streams lassen die Zuschauer_innen teilhaben an dem klugen und empathischen Austausch, der auf der Bühne der Brotfabrik Bonn in Szene gesetzt wurde. Eine Stunde lang bereiten Melanie Suchy als fragender Gast, Dwayne Holliday, Tänzer und Tanzwissenschaftler, Nora Vladiguerova, Tänzerin und Choreographin, sowie Guido Preuß, hier als Produzent und Filmemacher, dem Publikum, durch ihre profunden und offenen Einsichtgaben, eine Sternstunde des Theaters in Zeiten der Abwesenheit analoger Aufführungspraxis.

Wie wichtig den Protagonisten die Teilhabe des Publikums ist, lässt sich schon daran ablesen, dass Kristina Wydra als aufmerksame und kompetente Chatmasterin ebenso ins Bild gerückt wird wie die Beiträge selbst, die alle Beteiligten auf einer grossen Projektion mitverfolgen können.

Ein sehr warmherziges Theaterereignis aus Film, mit erwähnenswerter Musikkomposition und Arrangements durch Angie Taylor und Guido Preuß, und einem Massstäbe setzendem Gesprächsformat, das berührt – gerade in Zeiten in denen Berührung als Gefahr verstanden wird.

Erneut heute Abend: Weitere Streams am Sa, 27.03.2021 und Fr, 03.04.2021, jeweils 20 Uhr, über den Vimeo-Kanal von Tanzwerke Vaněk Preuß, Anmeldung über presse@tanzwerkepreuss.de

Noli me tangere©Screenshot Guido Preuß

Noli me tangere©Screenshot Guido Preuß