©carol mendonca

Ein choreografisches Spiel
“HOT 100 – The Hot One Hundred Choreographers” von und mit Cristian Duarte,

Brasilianisches Gastspiel bei barnes crossing im Kunstzentrum Wachsfabrik, Sürth
Nachtkritik von Klaus Keil

Durchlässigkeit und Durchsichtigkeit signalisieren das gleißende Neonlicht und der weiße Tanzboden im sonst völlig schwarzen Bühnenraum der Wachsfabrik, als der Tänzer Cristian Duarte leichtfüßig auf die Bühne springt und sie in lockeren Sprüngen quert. Klassisches Klavier wie zu Exercises im Ballettsaal setzt den Rahmen. In der fortlaufenden Bewegung ist es eher die Andeutung als Ausführung einer Arabesque mit der Duarte das Publikum auf seine virtuose Reise durch die Tanzgeschichte einstimmt. Zeit, es sich darin bequem einzurichten, bleibt nicht, denn schon mischen sich in die Klavierklänge andere Musikfragmente und Sprachfetzen aus dem Modern Dance („…that was the contraction“).

Von der Anmutung des klassischen Balletts wechselt Duarte ebenso übergangslos wie fließend zu zeitgenössischen Tanzformen, kehrt am Boden liegend zu leisen Schwanenseeklängen mit ausgebreiteten Armen wie im Flügelschlag kurz zum klassischen Stil eines Marius Petipa zurück – um gleich wieder in eine zeitgenössische Bewegung mit ruckelndem Oberkörper hineinzufinden. Diese Bewegungswechsel verlaufen völlig entspannt und unprätentiös auf einem leisen Klangteppich kurz angespielter Stücke, von Vivaldis Vier Jahreszeiten über südamerikanische Popsongs bis hin zu Ravels Bolero. Tatsächlich wirkt der ganze Abend wie ein „choreografisches Spiel“ (Duarte) mit unendlichen Bezügen und Referenzen an herausragende Tänzer und Choreografen und deren besondere Stilistik. Duartes Körper fungiert dabei wie ein Speicher von tänzerischen Erfahrungen, den er unermüdlich füllt und aus dem er ebenso unermüdlich schöpft, um seine eigene Bewegungssprache damit anzureichern, die Ergebnisse wieder einzufüllen in das Körpergedächtnis und sie jederzeit wieder abrufen zu können. Großartig, wie Duarte mit seinem Wand-Handstand Xavier Le Roy und seiner Körperskulptur aus Self Unfinished die Referenz erweist. Und doch wäre es falsch, jetzt in jeder Bewegung Duartes den konkreten Bezug zu einem Stück oder Choreografen zu suchen.

Die Inspiration für sein außergewöhnliches Anliegen, in einem einzigen Solo die „heißesten“ hundert ChoreografenInnen der Tanzgeschichte tänzerisch aufzulisten, die ihn beeinflusst haben, hat sich Duarte vom gleichnamigen Text-Gemälde des schottischen Künstler Peter Davies geholt. Ob es Zufall war, dass auch Duarte bei seiner Recherche auf hundert Stücke, Stile und Tanzkünstler gekommen ist, die ihn künstlerisch beeinflusst haben und so Teil seines Körpers geworden sind oder er bei hundert Stop sagte, mag dahingestellt bleiben. Es lohnt auf jeden Fall, sich diese Liste im Internet nicht nur einmal, sondern mehrfach anzuschauen ( www.lote24hs.net/hot100 ), denn nicht nur die Farbzusammenstellung ändert sich von Mal zu Mal, sondern auch die Namen der Tänzer und Choreographen am bisherigen Platz. Besser lässt sich Duartes tänzerisch-choreografische Durchlässigkeit für Tanzstile und ihre Repräsentanten, von Vaslav Nijinsky bis Saburo Teshigawara und von Martha Graham bis Michael Jackson nicht darstellen. Mit dem in São Paulo preisgekrönten Tanzsolo „HOT 100“ des brasilianischen Tänzer-Choreografen Cristian Duarte hat die erste Woche des Flow Dance Festivals einen großartigen Abschluss gefunden. World meets NRW.