Das neue Stück „Polaris“ von Tanzwerke Vanek Preuß:

Gebrauchtmensch

Das neue Stück „Polaris“ von Tanzwerke Vanek Preuß hatte Premiere auf der Bühne des Kulturzentrums Brotfabrik in Bonn-Beuel im Programm Tanzgenerator 

Nachtkritik von Melanie Suchy

Menschlein im Rohzustand: Die drei stecken in weißen langärmligen Kleidungsstücken, als seien ihre Pyjamas zu heiß gewaschen worden. Ungeschmückter geht nicht. Gurte zur Verstärkung hat ihnen Melanie Riester um Taille oder Brustkorb und um die Knie gelegt. Unten nackte Füße. Vielleicht sind diese drei Menschfiguren selber zu heiß oder kalt gewaschen worden oder zu sehr geschleudert. Sie stehen im Profil, nahe beieinander, und tun so, als strebten sie dorthin zur Seite, nach links. Knicken in den Knien, wölben die Brustkörbe, recken Kinne vor, heben Fersen. Geraten rückwärts. Wieder vor und wieder rück, weiter zurück. Später, nach einer Weile Unterwegssein in anderen Bühnengefilden und Regungszuständen, geraten sie an genau diese Stelle zurück. Die Drei von der Profilstelle. Abgenutzt.

Das neue Stück von Tanzwerke Vanek Preuß, alias Karel Vaněk und Guido Preuß, ist ein Gang durch Verstörtheiten. Die drei derangierten Wesen werden verkörpert von Lisa Bless, Josefine Patzelt, Tobias Weikamp. Ihrer selbst kaum bewusst, lässt irgendetwas sie ständig streben, suchen, sich abrackern. Sie wurden irgendwo ausgesetzt, wo nichts ist, außer dass sich Julia Bogner-Dannbecks Licht mal ändert, von Düstergelb zu Hell zu fast partyhaftem Gelb-Magenta. Sie gelangen irgendwohin, aber es reicht nie. Sie müssen weiter und anders, und ihr Weiter läuft zuweilen rückwärts ab, nach unkenntlicher Kehrtwende. Gemeinsam, zu zweit, allein. 

©Alessandro De Matteis

POLARIS©Alessandro De Matteis

Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie das gleiche tun, kurz nacheinander, manchmal plötzlich gleichzeitig. Oder einer macht’s schnell, die anderen ziehen verlangsamt hinterdrein. Als halte sie ein loser Mechanismus zusammen, aber kein Anführer und keine Lust am synchronen Schwung. Die drei krabbeln und krauchen am Boden im ruckelnden Rhythmus, mit Händen oder Ellbogen als Vorderbeinchen, vorwärts, rückwärts, wirken vorsichtig und schreckhaft. Sie bauen sich vorn an der Bühnenkante auf, stehen frontal, schieben die Gesichter vor, neigen sie, blinzeln schief, ziehen Schultern zu Ohren, krümmen den Brustkorb. Finden keine Form. Normal ist nicht.

Das Verzerrte wird die Norm. Wenn die drei einander berühren, ist das kaltes Greifen. Sie rollen übereinander, schubsen auch, ziehen, heben. Für ein langes Duett tritt Tobias Weikamp hinter Josefine Patzelt wie ein herbeigewünschter Begleiter. Als Geist ohne eigenen Willen lässt er alles mit sich machen. Sie schaut ihm nie ins Gesicht, sondern träumt vor sich hin, während sie ihn schiebt, biegt, stupst und zu Stütze und Sitzmöbel macht. Weil sie’s kann. So spielt „Polaris“ die Gewalt, die es meint, nie aus, sondern reibt einem das Unglück der Blödheit unter die Nase. Oder die Blödheit des Unglücks.

POLARIS©Alessandro De Matteis

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Die kleinere Lisa Bless beugt sich zu sich selbst, boxt auf ihren Unterarm, reibt, verknotet sich flexibel, um im Raum zu verschwinden wie eine depressive Süchtige. Josefine Patzelt kniet zu einer wahnsinnig schönen traurigen Arie, das Gesicht abgewandt, und buddelt aus dem Oberkörper sehnsuchtsvolle Armgesten heraus, bittend geöffnete Hände. Dazu gehören keine Geschichten. Es sind nur Kurzzeitrollen, die wie im guten alten Tanztheater Gefühle oder Gedanken ausspinnen. Doch setzt „Polaris“ sie in Anführungszeichen.

Denn Tobias Weikamp latscht herbei, das Licht wechselt die Seiten, erhellt nun das Publikum. Er kommentiert rotzig die vorherige Szene, nennt sie „Oper“, da sei wohl „kein Auge trocken geblieben“. Verteilt Sektfläschchen als Belohnung an einige Zuschauer und verwehrt sie anderen. Das Unerwartete treibt die Inszenierung voran, die selbst bei langen Szenen nicht durchhängt. Da stimmt das Timing beim in sich nie ganz Stimmigen.

War das ein Moonwalk zu Beginn, als KI-generierte unperfekte Variante? Ist vielleicht alles nur geklaut? Die balletthaften Pirouetten, das Contact-Improv-Wälzen aufeinander, das Cunninghamsche Heben und Wenden angespannter Körperglieder, das flüssigere Modern-Dance-Ausgreifen, das Spähen der „May B“-Beckettist:innen, das insektoide Krabbeln der Bonner Kollegen von Cocoon Dance, der Catwalk, das sexy Posieren? Echt, neudeutsch „authentisch“: ist nicht.

So blättert „Polaris“ Beobachtungen übers Teilnehmen an der hiesigen oder westlichen Gesellschaft auf, ohne plakativ zu werden oder billig zu meckern. Der Programmheftzettel zitiert die Soziologin Eva Illouz mit ihren klugen Analysen von Verhaltensweisen. In „Polar“ des Titels steckt die Kälte, der Eisberg und der Ansatz zur oft mit zu viel Blubbern beschworenen „Polarisierung der Gesellschaft“. Sogar die Referenz an Andrej Tarkowskis Film „Solaris“ von 1972 lässt sich aufspüren: wenn sich Erinnertes materialisiert, Gestern morgen wird, Wirklichkeit verschwimmt.

POLARIS©Alessandro De Matteis

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Das Stück ist der zweite Teil einer Trilogie über „biases“, Voreingenommenheiten, die Vanek und Preuß inszenieren im Rahmen ihrer Konzeptionsförderung vom Land NRW. Teil eins, „Boys confused“, spielte auf herrlich ironische und kratzbürstige Weise mit dem „was man noch sagen oder zeigen darf“, dem „Woke-Sein“ mit all seinen Widersprüchen, mit pointierten Dialogen und scheinbar vom Körper getrennten Köpfen. So scharfsinnig ist auch „Polaris“, nur nicht so lustig. Doch hätte dem Stück eine größere Tänzergruppe gut getan als „Gesellschaft“. Wer Text braucht, den führten drei Songs auf die Spur der tieferen Bedeutung und Überhöhung: Immer wieder blökt Donald Trump seine blöden Sätze über Einwanderer in Springfield, „they’re eating the cats“, die Hunde und Katzen essen, bis David Scott, alias The Kiffness, dies zum munteren Lied strickt. Ähnlich leichtfüßig auch die Songs von Mazi und von Noga Erez über Blödheit: „dumb dumb dumb“. Wenn’s nur nicht so furchtbar wäre.

POLARIS©Alessandro De Matteis

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