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KISS ME – UND DANN GOOD BYE
Nachtkritik von Klaus Keil

Wenn das Publikum eingelassen wird, ist das Stück zu einer flotten Musik schon in vollem Gang. Tim Gerhards probt Seilhüpfen mit einer Lichterkette, wirft sie weg, rast hektisch an eine Wand zum Kopfstand und gleich darauf zum Bierkastenstemmen. Johanna Roggan wühlt in Kleidern, sucht und wühlt nach Passendem. Jan Werge wirft als Travestit im Wechselschritt keck sein Röckchen. Gerhards kniet derweil vor einem Altar mit Gartenzwerg, der gleich zum ständigen Begleiter bei allen Aktionen wird.

Schon in der Eingangsszene von Sylvana Seddigs Tanztheater „Neurosen und Altlasten. Psychotanz mit Ich, Mir und Mich“ zeigen die Performer, was alles an Ticks, Verrücktheiten, Altlasten und vor allem Neurosen man mit sich herum schleppen kann. Erstaunlich, wie viel Chaos Drei auf eine große Bühne bringen können. Nur wenn sie sich auf den vereinzelten Stücken Rollrasen versammeln, dreht das Stück und es wird ruhiger, fast kontemplativ. Zum Dauertongesang von Jan Werge gehen die anderen in Tanzposition, strecken langsam die Arme, gehen nach einer Rückwärtsdrehung wieder in die Streckung. Während der hyperaktive Tim Gerhards sein ADS-Syndrom nicht in Griff zu kriegen scheint, räkelt sich Johanna Roggan in lasziven Posen auf dem Rasen.

Nach der Hektik des Anfangs scheint sich hier eine Lösung anzudeuten: meditative Sammlung und Selbstfindung. Dazu werden jetzt alle Register esoterischer Sinnsuche-Seminare gezogen. Hi, ich bin der Tim? Willste ein Bier haben? Komm doch rüber. Es dauert nicht lange, bis die Performer eine Gruppe Zuschauer auf die Bühne gelotst haben. Einige finden sich in einer Massagegruppe bei Jan wieder, um sich gegenseitig zu massieren. Urkomisch. Andere wühlen mit Johanna in der Kleiderkiste, während bei Tim die Flaschen kreisen. Es scheint, als befinden sich die Drei in einem Wettkampf um die größtmögliche Zuneigung. Das ist Zustandsbeschreibung und Ratlosigkeit zugleich. Um die aufzudecken wird die Eso-Szene gnadenlos vorgeführt und satirisch verzerrt.

Die drei Performer liegen auf dem Rasen. Jan Werge mit dem Gartenzwerg gibt die Anweisungen (oder gibt der Gartenzwerg den Ton an?): „Wir atmen tief in den großen Zeh und lassen die Luft am Bauchnabel raus. Wir finden unseren Urton, tauchen ein in die Aura des Anderen.“ Zum Schluss knubbeln sich die Drei im Drunter und Drüber eines Wohlfühlhaufen. Das ist so absurd und unglaublich komisch, das ist aber auch bös und angriffslustig, denn die meisten esoterischen Trends haben längst nichts mehr mit den Grundgedanken der Esoterik gemein. Rechnet hier die Generation der Dreißigjährigen mit ihrer Elterngeneration ab? Die Choreografin begibt sich mit ihrer Parodie von Esoterik in ein psychologisches Grenzgebiet voller Tretminen. Ich, Mich und Mir stehen sich in ihrem Stück als „anonyme Diktatoren“ (Seddig) im Kampf gegenüber. Die Esoterik aber sucht nach dem individuellen Weg der Erkenntnis. Ich, Mir und Mich sind schließlich nur eine Variation einer Person. Das ist grammatikalisch so, warum also soll es auf der Bühne anders sein. Nur das triebhafte „Es“, so wissen wir seit Sigmund Freud, weicht ja vom realen „Ich“ ab. Das aber wird gänzlich ausgespart in dieser Inszenierung. Es wäre wohl auch eine inhaltliche wie psychologische Überfrachtung. Also begnügt man sich besser mit dem bunten Szenenreigen und amüsiert sich über die Ticks der Drei auf der Bühne. Wer mag, kann darin sicher auch seine eigenen wiederfinden. Und ja, man kann sich auch über diese Eso-Parodie amüsieren, auch wenn Vereinfachung statt Differenzierung betrieben wird. Für Tim liegt die Lösung aller Neurosen ohnehin ganz nah: „Wenn alle so sind wie ich gibt es kein Problem mehr“. Für Johanna sind sie erst gelöst, wenn „alle so aussehen wie ich“.

Dazu entfaltet die Choreografie ein vielfältiges Bewegungschaos, in dem sich die beiden Männer um die Frau reißen, sie aufs Podest heben, ihr wie Hunde auf allen Vieren hinterher schnüffeln. Tim arbeitet immer noch an seinem ADS-Syndrom und wirft sich unentwegt zu Boden. Irgendwann stoppen die Musik und die Bewegungsorgie. Im Rascheln ihres wilden Kostüms aus glänzenden Videobändern tanzen Jan und Johanna ein Duett der Annäherung und bringen nach der heiteren Ausgelassenheit eine ernste Note ins Stück. Zu spät, um zu klären wer Ich, Mir, Mich ist. Längst sind die Kleiderbügel an der Bühnenrückwand verkehrt aufgehängt und sehen nun aus wie fliegende Vögel. Längst sind der harte Beat, Klangschale und esoterisches OM verklungen. Altlasten und Gartenzwerge übernehmen wieder das Kommando. Noch einmal wiegen sich die drei Performer zur musikalischen Schmonzette „Kiss me goodbye“ von Petula Clark im Wiegeschritt des Slow-Fox und betten sich dann auf dem Rollrasen zur Ruhe. Richtig dick wird da zum Schluss noch einmal aufgetragen.

Alle sind nun wieder mit sich im Reinen – oder nicht?

Noch am 31.1. und 1.2. jeweils 20 Uhr
Barnes Crossing     

Klaus Keil